Tausend Jahre „Rotkäppchen“

Präsenz einer Märchenfigur vom Mittelalter bis zur Gegenwart

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Tausend Jahre „Rotkäppchen“
 
Präsenz einer Märchenfigur vom Mittelalter bis zur Gegenwart
 
Von Heinz Rölleke
  
Wo, warum und wann Volksmärchen entstanden sind, ist bis heute ein nicht auflösbares Rätsel. Seit dem Erscheinen der Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ im Jahr 1812 sind Erklärungsversuche ins Kraut geschossen, die ungewöhnlich stark divergieren. So suchte man einerseits in Indien die Urheimat dieser literarischen Gattung; andererseits wurde behauptet, Märchen seien zu allen Zeiten überall auf der Welt erfunden worden. Viele sahen als Zweck dieser Texte vielgestaltig lehrhafte Anleitungen für Kinder, andere vermuteten, sie seien nur zur Unterhaltung und Belustigung erfunden worden. Am stärksten klafften und klaffen die Vermutungen über das Alter der Märchen auseinander: Einige Wissenschaftler glauben beweisen zu können, daß es schon vor Jahrtausenden Volksmärchen gegeben habe; andere bezweifeln deren Existenz in älteren Epochen der Menschheitsgeschichte, indem sie auf die Tatsache verweisen, daß sich Märchenaufzeichnungen erst seit der frühen  Neuzeit nachweisen lassen und daß sich nur verstreute Märchenmotive im Altertum und im Mittelalter ausschließlich in anderen literarischen Gattungen finden. Gesicherte Antworten kann man also auf keiner der drei eingangs gestellten Fragen geben. So sollte man in der Frage des Alters der Märchen nicht von einer unsicheren Hypothese ausgehen, sondern man ist darauf angewiesen, sich an die Erstaufzeichnung vorliegender Märchentexte und an deren eventuell greifbare Spuren in früheren Zeiten zu halten.
 
In deutscher Sprache erschien erstmals im Jahr 1560 ein Text, den man als Märchen auffassen kann: die Geschichte vom „Erdkuolin“, die Martin Montanus in seiner Schwanksammlung „Gartengesellschaft“ veröffentlichte. Daraus zu schließen, daß es im europäischen Raum zuvor keine in der mündlichen Überlieferung kursierenden Märchen gegeben habe, wäre falsch. Martin Luther in seinen Tischgesprächen und Geiler von Kaisersberg in seinen Predigten gehen im frühen 16. Jahrhundert erkennbar davon aus, daß ihren Hörern bestimmte Märchen bestens vertraut waren. So beginnt Luther sogleich mit der theologischen Ausdeutung der Geschichte von „Aschenputtel“, das er als allgemein bekannt voraussetzt, so daß er es nicht zuvor zu erzählen braucht. Das ist insofern für uns bedauerlich, als wir den alten Text nur nach dieser Auslegung rekonstruieren können. Dabei ergibt sich immerhin die interessante Feststellung, daß die Figur des Aschenbrödels seinerzeit immer männlich besetzt war.
 
In den Niederlanden ist aus dem 16. Jahrhundert der Hinweis auf eine seinerzeit bekannte Erzählung überliefert: „vele andere saghen vant Rootcousken.“ Für das Grimm'sche „Rotkäppchen“-Märchen führen also die Überlieferungswege weiter in die Vergangenheit zurück. Was die Entstehungszeit des inzwischen weltweit bekannten Textes betrifft, so tippen die einen mindestens auf die germanische Frühgeschichte, weil man Verwandtschaft mit dem Mythos vom Fenriswolf hypostasierte (was unbeweisbar ist), während andere die Erfindung der Geschichte in der heute vorliegenden Form frühestens im Jahr 1812 ansetzen, als der erste Band der Grimm'schen Märchen erschien. Gänzlich unhaltbar sind bis heute kursierende Gerüchte, Wilhelm Grimm habe das Märchen in der hessischen Schwalm oder in der Uckermark gehört, wo die jungen Mädchen ab dem 11. Lebensjahr ein rotes Käppchen trugen. Das habe ihn veranlaßt, das Mädchen und das ganze Märchen „Rotkäppchen“ zu nennen und indirekt dort zu lokalisieren. Das ist nachweislich falsch, denn in die Uckermark kam Grimm erst vier Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der „Kinder- und Hausmärchen“. Überdies: Da seinerzeit alle Mädchen in der hessischen Schwalm rote Kappen trugen, wäre es sinnlos gewesen, darum den Namen und die Besonderheit seiner Herleitung an den Anfang der Geschichte, wie man sie seit 1812 kennt, zu stellen: Eines Tag schenkte die Großmutter dem Mädchen „ein Käppchen aus rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, hieß es nur das Rotkäppchen.“
 

Geht man dieses Namens wegen in die Zeit vor Grimm zurück, so stößt man auf Zeugnisse, die nun schon gar nichts mit Schwalm oder Uckermark in Verbindung gebracht werden können. Anfang 1791 kam ein Singspiel mit der Musik von Carl Ditters von Dittersdorf und dem Text von Goethes nachmaligem Schwager Christian August Vulpius heraus, das am 7. Mai 1791 auf der Weimarer Bühne gespielt wurde. Goethe lobte das Werk ausdrücklich noch in einer Notiz vom 9. Februar 1808:
 
            „Wer in Weimar mag sich nicht gern des 'Rothen Käppchens' erinnern,     
            mit dessen heiterer Erscheinung das jetzige Hoftheater [in Dessau]          
            eröffnet wurde.“
 
Vulpius hatte das 1781 in Venedig mit der Musik von Cimarosa aufgeführte Lustspiel des Dichters Filippo Livigni „Giannina e Bernardone“ übersetzt und bearbeitet; auf dem erhaltenen Theaterzettel einer Aufführung in Dessau (31. Juli 1794) steht als Titel „Das rothe Käppgen“, oder: Hilft's nicht, so schadt's nicht! Eine Komische Oper in drei Aufzügen nach der Vulpiusschen Bearbeitung.“
 
Andreas Meier erklärt die Wahl des deutschen Titels durch Vulpius:
 
            „So gipfelt sein Singspiel in einer dramatisch weitaus geschickteren         
            Pointe, in deren Zentrum das titelgebende 'rote Käppchen' steht. […]      
            Dem eifersüchtigen Dorfschulzen wird ein rotes Lederkäppchen verkauft,        
            das den Träger bei seinem Partner unwiderstehlich machen soll.“
 
Die angeblich Wunder wirkende Kraft des Käppchens „hilft“ dem Träger gemäß dem Untertitel nicht in der versprochenen Weise, aber es „schadet“ auch nicht. Vulpius kannte offenbar Charles Perraults Märchenerzählung „Le petit chaperon rouge“ von 1697 und setzte den Namen des Mädchens im Titel seiner Bearbeitung ins Deutsche um. So war schon ein Anonymus im Jahr 1761 verfahren, der seine Übersetzung des Perrault-Textes mit „Die kleine Roth-Kappe“ überschrieben hatte. Ludwig Tieck nannte dann sein im Jahr 1800 erschienenes Märchendrama „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens“. Als die Brüder Grimm 1812 ihr „Rotkäppchen“ in zwei Versionen veröffentlichten, merkten sie dazu an:
 
             „Diese Märchen haben wir außer unserer mündlichen Sage […]   
             nirgends angetroffen, als bei Perrault (chaperon rouge) wonach Tiecks    
             Bearbeitung.“
 

In der zweiten und dritten Auflage der Anmerkungen wurde daraus der lakonische Hinweis „Aus den Maingegenden“. Dieser Herkunftsnachweis deutet auf die Schwestern Hassenpflug, und so bestätigt es Wilhelm Grimms Eintragung in sein Handexemplar der Märchen: „Jeanette Herbst 1812“, „Marie Herbst 1812“. Die Geschwister Hassenpflug waren mit Perraults Märchen bestens vertraut, so dass der Titel auf ihre Erzählungen zurückgehen könnte, was indes unwahrscheinlich ist, weil die mündlich tradierten Geschichten den Grimms in der Regel ohne Überschrift zukamen. So muß man annehmen, daß der Grimm'sche Märchentitel nach Tieck formuliert wurde.
 
Die Märchenforscher Johannes Bolte und Georg Polívka haben 1913 auf eine im frühen 11. Jahrhundert verfaßte lateinische Erzählung verwiesen, die wohl als ältestes Zeugnis für einen Teil der Geschichte vom Rotkäppchen gelten kann:
 
            „Schon um 1023 berichtet Egbert von Lüttich in seiner lateinischen         
            'Fecunda ratis' ('De puella a lupellis servata' - Über ein kleines      
            Mädchen, das von jungen Wölfen gerettet wurde) als ein von Bauern      
            gehörtes Abenteuer, wie man ein fünfjähriges Mädchen in einer    
            Wolfshöhle fand, wo es mit den jungen Wölfen spielte und sie mahnte:   
            'Hanc tunicam, mures, nolite scindere, quam dedit excipiens de fonte      
             patrinus!'“
 
„Zerreißt meinen roten Rock nicht, ihr Mäuse! Den hat mir mein Pate geschenkt.“ Wie im Grimm'schen Märchen handelt es sich auch

Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing
hier um ein Geschenk eines Verwandten an ein kleines Mädchen. Aus der roten Tunica wurde durch Bedeutungsverschiebung des Synonyms „cappa“ das rote Käppchen. Cappa war zuerst eine Bezeichnung für einen mantelähnlichen Umhang. Die Reliquie des Heiligen Martin, der nach der Legende seinen Mantel geteilt hatte, wurde cappa genannt (daher die Ableitungen „Kap-elle“ oder „Kap-lan“). Als man später unter cappa eine Kappe oder eine Kapuze verstand, wurde mit diesem Wort nicht mehr ein Mantel, sondern   - pars pro toto -  die Kapuze, der obere Teil des Umhangs, oder eben ein „Käppchen“ bezeichnet. So ist ja wohl auch die  Tarnkappe Siegfrieds im um das Jahr 1200 aufgezeichneten „Nibelungenlied“ ursprünglich ein den ganzen Menschen umhüllender unsichtbar machender Umhang zu verstehen.
 
Aus all dem läßt sich mit gebotener Vorsicht schließen, daß mit dem „Rotkäppchen“ teilweise verwandte Geschichten schon im frühen Mittelalter kursierten. Grimms Fassung des Märchens wurde und blieb nicht nur weltberühmt, sondern sie hat auch zu immer neuen Überarbeitungen angeregt, unter denen die um 1930 entstandene Umerzählung von Joachim Ringelnatz bekannt zu bleiben verdient. Er läßt das Märchen von seinem alter ego, dem trunkfreudigen Seemann Kuddeldaddeldu vortragen, der - wie andere unvorbereitete Erzähler bis heute auch -  eine Unmenge von „Und“-Verbindungen einfügt, in seiner etwas verwirrten Erinnerung einige Märchen durcheinanderbringt und das märchenhafte Happyend ersatzlos wegläßt und besonders lebhaft seine eigenen Vorlieben in den Text einbringt. -  Viel Freude bei der Lektüre!
 
       „Kinners, wenn ihr mal fünf Minuten lang das Maul halten könnt, dann will ich euch die  
       Geschichte vom Rotkäppchen erzählen, wenn ich mir das noch zusammenreimen kann
       […]. Also lissen to me. Da war mal ein kleines Mädchen. Das wurde Rotkäppchen
       angetitelt – genannt heißt das. […]. Das war ein schönes Mädchen, so rot wie Blut   
       und so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz […]. Und eines Tages schickte
       die Mutter sie durch den Wald zur Großmutter; die war natürlich krank.
       Und die Mutter gab Rotkäppchen einen Korb mit drei Flaschen spanischen Wein und  
       zwei Flaschen schottischen Whisky und einer Flasche Rostocker Korn und einer Flasche
       Schwedenpunsch und einer Buttel mit Köm und noch ein paar Flaschen Bier und Kuchen
       und solchen Kram mit, damit sich Großmutter mal erst stärken sollte […] im Walde
       begegnete ihr der Wolf. Der fragte 'Rotkäppchen, wo gehst du denn hin?' Und […] er
       fragte: 'Wo wohnt denn deine Großmutter?' Und sie sagte das ganz genau:
       'Schwiegerstraße dreizehn zur ebenen Erde.' […] Der Wolf lief mit vollen Segeln nach
       der Schwiegerstraße Nummero dreizehn und klopfte zur ebenen Erde bei der Großmutter
       an die Tür. Die Großmutter war ein mißtrauisches altes Weib mit vielen Zahnlücken.
       Deshalb fragte sie barsch: 'Wer klopft da an mein Häuschen?' Und da antwortete der
       Wolf draußen mit verstellter Stimme: 'Ich bin es, Dornröschen!' Und da rief die Alte:
       'Herein!' Und da fegte der Wolf ins Zimmer hinein. Und da zog sich die Alte ihre
       Nachtjacke an und setzte ihre Nachthaube auf und fraß den Wolf mit Haut und Haar auf.
        […] Rotkäppchen lief nun in die Schwiegerstraße. Und da sah sie, daß ihre Großmutter
       ganz dick aufgedunsen war. […] Und da fragte Rotkäppchen: 'Großmutter, warum hast
       du denn so einen großen Mund?' Nun ist das ja auch nicht recht, wenn Kinder so was zu
       einer erwachsenen Großmutter sagen. Also da wurde die Alte fuchsteufelswild und
       brachte kein Wort mehr heraus, sondern fraß das arme Rotkäppchen mit Haut und Haar
       auf. […] Und draußen ging gerade der Jäger vorbei […] und trat, ohne anzuklopfen, in
       die Stube. […] Und - diavolo caracho! - da schlag einer lang an Deck hin! - Es ist kaum
       zu glauben! - Hat doch das alte gefräßige Weib auch noch den Jäger aufgefressen. - Ja da
       glotzt ihr Gören und sperrt das Maul auf, als käme noch was. - Aber schert euch jetzt mal
       aus dem Wind, sonst mach ich euch Beine. Mir ist schon sowieso die Kehle ganz trocken
       von den dummen Geschichten, die doch alle nur erlogen und erstunken sind. Marsch fort!
       Laßt euren Vater jetzt eins trinken, ihr - überflüssige Fischbrut!“
           
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020
 

      Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing

Wir danken Brigitte Schleusing für die Erlaubnis,
die Zeichnungen Thomas Schleusings zu benutzen.

 Redaktion und Bildauswahl: Frank Becker