Wilhelm Busch unter der Gürtellinie?

Die „Romanze vom nützlichen Soldaten“ - anekdotisch beleuchtet

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Wilhelm Busch unter der Gürtellinie?
 
Vor einiger Zeit berichtete mir ein Freund, an der Schule seiner Enkel habe man im Lehrerzimmer diskutiert, ob Texte/Bilder von Wilhelm Busch im Unterricht für alle Jahrgangsstufen geeignet seien. Einhelliges Votum des Kollegiums: Ja, für alle! Natürlich mit altersgemäßer Auswahl.
Hätte man früher, z.B. in meiner Jugendzeit vor dem 2. Weltkrieg, auch so entschieden?
Mir kam ein Gespräch mit einem anderen Freund ins Gedächtnis. Er war wegen eines Vortrags aus Wilhelm-Busch-Werken 1952 in große Schwierigkeiten geraten. Mein Freund war damals Schüler eines Gymnasiums im Rheinland (Primaner!).
Am Ende einer Klassenfahrt forderten ihn Mitschüler im Reisebus auf, doch Wilhelm Busch-Verse vorzutragen, um die langweilige Heimreise aufzulockern. Mein Freund, bekannt als Liebhaber der Wilhelm Busch-Werke und Gedächtniskünstler, ließ sich nicht lange bitten. Er zitierte auswendig und erregte die erhoffte Heiterkeit.
Nun muß ergänzt werden, daß auch einige Damen im Bus waren, nämlich Frauen der Lehrer. Sie hatten sich den Ausflug nicht entgehen lassen wollen. Offenbar haben auch sie sich amüsiert. Proteste blieben aus. Am Ende der Fahrt war die Stimmung gelöst, und man verabschiedete sich in bester Laune.
Zufrieden, ja, ein wenig stolz ging mein Freund heim. Was für ein schöner Ausklang einer Klassenfahrt!
 
Aber der nächste Schultag brachte nichts Gutes. Mein Freund, ein begabter Schüler und von seinen Klassenkameraden zum Klassensprecher gewählt, wurde zum Direktor zitiert.
Dort entlud sich ein Donnerwetter. Woher er die Dreistigkeit nehme, Verse vorzutragen, die „unter die Gürtellinie gingen“? Ob er denn kein Anstandsgefühl besitze? Unerhört, daß der Vortrag auch noch in Gegenwart von Damen stattgefunden habe. Er sei von einem solchen Schüler tief enttäuscht. Eine Schande für die ganze Schule etc.
Geknickt verließ mein Freund das Zimmer des Schulleiters. Er dachte, nun sei sein Abitur gefährdet. Die „Reifeprüfung“ werde er kaum bestehen, wenn ihm die sittliche Reife aberkannt würde.
 
Gut zu wissen, daß mein Freund im Abitur gut abschnitt und keineswegs als ein leichtsinniger Bursche „ins Leben trat“. Er studierte Theologie und wurde Pfarrer.
Besonderen Anstoß hatte der Direktor an einem Gedicht genommen, das hier in voller Länge zitiert werden muß.
 
Romanze vom nützlichen Soldaten
 
Rieke näht auf die Maschine,
Nischke ist bei´s Militär,
Dennoch aber ließ sie ihne
Niemals nahe bei sich her.
 
Wozu, fragte sie verächtlich,
Wozu hilft mich der Soldat,
Wenn man bloß durch ihn hauptsächlich
So viel hohe Steuern hat.
 
Einstmals ging sie in das Holze,
Nischke wollte gerne mit;
Aber nein, partu nicht wollt se,
Daß er ihr dahin beglitt.
 
Plötzlich springt aus dem Gebüsche
Auf ihr zu ein alter Strolch;
Stiere Augen, wie die Fische,
Kalte Hände, wie der Molch.
 
Runter, schreit er, mit die Kleider,
Denn sie lebt im Überfluß,
Da ich ein Fabrikarbeiter,
Der sich was verdienen muß.
 
Weinend fällt das Kleid und Röckchen,
Zitternd löst sich der Turnür,
Nur ein kurzes Unterglöckchen
Schützt vor Scham und Kälte ihr.
 
Bauz! Da fällt ein Schuß mit Schroten.
Fluchend lauft der Vagabund
Mit verletztem Hosenboden
In des Waldes Hintergrund.
 
Das tat Nischke, der trotz allen
Rieken heimlich nachgeschleicht,
Die sich unter Dankeslallen
Jetzt um seinen Hals verzweigt.
 
O ihr Mädchens, laßt euch raten,
Ehrt und liebet den Soldat;
Weil er sonst vor seine Taten
Nicht viel zu verzehren hat.
 
Schlimm? Ein Mädchen in Unterwäsche (Glöckchen“)!
 
In meiner Familie gab es ein halbes Dutzend Lehrerinnen/Lehrer, darunter mein Großvater, die mir bedenkenlos Wilhelm Busch-Alben überließen, als ich noch ein Kind war. Bis heute bin ich ihnen dafür dankbar.
Aber auch an meinem Gymnasium in Westfalen, an dem ich 1952 mein Abitur machte, war man großzügig und tolerant. Unvorstellbar, daß sich dort ein Lehrer so aufgeregt hätte wie der Direktor der Schule meines Freundes. Die Lektüre von Wilhelm Busch-Versen wäre gewiß nicht auf Bedenken oder gar Ablehnung gestoßen.
In unserer Klasse diskutierten wir in schöner Unbefangenheit mit dem Deutschlehrer (damals um die 60) alte und neue Schlagertexte.
Beispiele – nach meiner Erinnerung -: „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?“ – „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“ – „Das machen nur die Beine von Dolores“ ...
Alles wohl eher „anstößig“ aus der Sicht prüder Typen als Wilhelm Busch-Verse!