Die Wunderwuzzin

Gedanken zum Theater

von Renate Wagner

Renate Wagner
Die Wunderwuzzin
 
Ich habe meine Freundin Inge Maux getröstet. Sie hätte in diesem Sommer in Gutenstein bei den Raimundspielen die Zufriedenheit in „Der Bauer als Millionär“ spielen sollen und ist entsprechend betrübt über die Absage – schließlich hatte man bis zuletzt gehofft und Kostüme probiert.
„Schau, Inge“, sagte ich ihr. „So Gott will, sind wir alle nächstes Jahr auch noch da, und dann ist alles wieder normal.“
 
Schließlich hat man einen Wunderwuzzi, genau gesagt (Achtung! Gendern!), eine Wunderwuzzin in Gestalt von Andrea Mayer aus dem Hut gezaubert, und die gute Frau soll jetzt – Simsalabim! – auf der Stelle alles bereinigen, was bis dato unlösbar war. Der Gesundheitsminister soll ihr erlauben, daß die alte Nähe wieder möglich ist (anders funktioniert Theater weder beim Trainieren, pardon Proben, noch beim Spielen), und daß wir wieder Schulter an Schulter in Räumen sitzen dürfen (bitte, bitte, ohne die Masken vorm Gesicht). Und der Finanzminister wird die Millionen über die Kunstschaffenden ausschütten, die zwei arbeitslose Monate hinter sich haben. Schön wär’s.
 
Mir sind im Zusammenhang mit der Kultur, ohne die es nicht geht, ein paar ketzerische Gedanken gekommen. Das hat übrigens auch damit zu tun, daß mir mein Freund Bernhard, passionierter Kaffeehausbesucher und natürlich sofort wieder „draußen“ (aus der Wohnung) und „drinnen“ (in seinem Stammcafé), erzählt, was ich so nie für möglich gehalten hätte. Daß die Lokale nämlich keinesfalls überfüllt sind. Die Sehnsucht, sich wieder auf eine kommunikative Ebene zu begeben, scheint nicht so groß, daß kein Staudamm sie aufhalten kann… komisch. Ich hätte gedacht, daß man nirgendwo einen Platz bekommt. Sind andere Leute so wie ich (die immer irgendwo unterwegs war) darauf gekommen, wie gemütlich es zuhause ist?
 
Im übrigen wage ich zum Thema „Kultur“ ein paar Überlegungen, für die man mich steinigen möge, aber sei’s drum, so lange ich es überlebe. Und ein bißerl Meinungsfreiheit sollte schon sein. Also – würden die Menschen die Theater, die Opern, die Konzertsäle, die Ereignisse stürmen, wenn plötzlich alles beim Alten wäre? Oder ist das ununterbrochene Lippenbekenntnis, wie wichtig die Kultur für uns sei, nicht mehr als ein solches – von Politikern, die (wie Herr Kogler, wenn ich das recht verstanden habe) vielleicht gar nicht wissen, wie ein Theater von innen aussieht?
 
Wie würde der Durchschnittsbürger, der in Wien automatisch ins Theater und in die Oper und ins Konzert geht, weil er schließlich Abos hat, sein Bedürfnis nach Kultur definieren? Ich habe noch keine Sprechchöre gehört: Wir wollen unsere Josefstadt wieder, wir können ohne sie nicht sein!!! Ich höre nur die… ja gelegentlich bis zum Gegeifere gesteigerte Forderung der Theatermachenden nach Geld, das ihnen durch die Krise entgeht.
 
Logisch, sie haben einen Beruf, für den es derzeit keine Auswegmöglichkeit gibt. Wer früher kein Theaterengagement hatte, konnte auf ein paar Drehtage beim Fernsehen hoffen. Zumindest. Heute gibt es nur eine Möglichkeit, „Hallo, da bin ich!“ zu rufen, wenn man Videobotschaften ins Netz zu stellt. Das macht mittlerweile jeder. Ich frage mich, wie hoch die Akzeptanz ist. Wie zahlreich ist das Publikum, das sich das ansieht – und mehr noch: Hat es wirklich etwas davon?
 
Also, kann man folgern, daß das „Kunst und Kultur Machen“ für diejenigen, die sie machen, wichtiger ist als für die, die sie konsumieren? Oft nur aus Gewohnheit „ins Theater gehen“? Und gemerkt haben, daß man abends auch zuhause bleiben kann. Wobei ich persönlich keine Erfahrungen mit Netflix, Sky, Disney und Amazon habe (letzteres besorgt mir meine Bücher, die anderen sind mir mit ihren bildmächtigen Riesenangeboten total fremd). All das ist sicher kein Ersatz für „richtiges“ Theater, aber für viele vermutlich eine Möglichkeit (eine? Hunderte!), wenn man den Abend unterhaltsam zubringen will.
 
Wie ist das mit dem „richtigen Theater“? Bei Nestroy, dem alten Zyniker, heißt es: „Damit der Abend auf dramatisch hin wird.“ Für mich hat Theater in meiner Jugend immer wieder bedeutet, daß es mich innerlich tief berührt hat: „Tua res agitur“, ja, um mich geht es, auch wenn der Schiller und der Goethe das „g’schrieben“ haben. Als Max Frisch uns in „Andorra“ ein Problem hinknallte, das damals keiner wahrhaben wollte, das ging unter die Haut! Und es war gewiß eine bittere „Komödie“, aber hat uns Dürrenmatts „Physiker“ nicht alles gesagt, was über die tödliche Wissenschaft zu sagen war? Da konnte man auch noch an einander krachen und sich den Kopf heiß diskutieren. Abgesehen davon, daß man in den Inszenierungen fraglos erkannt hat, worum es gegangen ist, und die Schauspieler anbetungswürdig waren… (Wenn heute die an sich anbetungswürdige Corinna Harfouch die „Physiker“ in einer Inszenierung von Herbert Fritsch spielt, kann ich nur einen Tobsuchtsanfall bekommen.)
 
Wann hat mich zuletzt ein Stück von heute wirklich erreicht? Theater und Publikum haben sich von einander entfernt, das ist unleugbar, und keiner kann das Rad der Zeit zurück drehen. Wer es verlangte, würde mit Hohn in den Orkus der „ewig Gestrigen“ geschleudert. Und doch ist es eine Tatsache: Wer heute in ein Stück geht, das behauptet, von Ibsen oder Schnitzler zu sein, bekommt nicht eine Ahnung davon, was der Autor einst geschrieben hat. Auch in der Oper kann sich der Zuschauer nur den Kopf darüber zerbrechen, was der Regisseur gemeint haben mag – und nicht, worum es Mozart gegangen ist (wenn Osmin die beiden Paare, die der Bassa entlassen hat, dann doch umbringt – oder, wenn das Ganze, in einer anderen Fassung, ohnedies in Nordafrika spielt, unter den Bedingungen der kolonialen Knechtschaft und Mordgesellschaft, was super zur Musik paßt) – man könnte Bücher darüber schreiben, was Regisseuren so im Lauf der Jahre willkürlich und oft böswillig durch ihre Birnen gerauscht ist (© Stadelmaier).
 
Und das Publikum, das brav mitgegangen ist und all das hinnimmt – hat es wirklich ein Bedürfnis nach all dem (natürlich ausgenommen von jenen, die nichts Besseres kennen und sich vom Feuilleton einreden lassen, sie hätten etwas Tolles gesehen)? Oder nimmt der Durchschnittsbesucher das einfach nur hin? Und wenn es das nicht mehr gibt – geht es ihm wirklich ab? Die Frage würde man ja gar nicht zu stellen wagen, nicht gedacht soll es sein! Und doch: Das viel besprochene „Umdenken“ kann auch zu unerwünschten Ergebnissen kommen…
 
Vielleicht müßte die Frau Wunderwuzzin nicht nur Theater und Oper auf die Bühnen zurück bringen, sondern das Wunder vollbringen, dem Publikum nicht nur das Interesse, sondern auch die Freude daran wieder zu geben? Das früher so oft empfundene Gefühl: Ohne Theater, ohne Oper, ohne Konzert will ich nicht sein!?!?!
 
Und daß der österreichische Durchschnittsbürger bei „Kultur“ überhaupt eher an „Wein-Kultur“ denkt als an die Hochkultur, um die wir jetzt ringen – daran will ich gar nicht denken…
 
Renate Wagner