Wenn man spät nach Hause kommt

von Julius Stettenheim

Wenn man spät nach Hause kommt
 
Es gibt eine Reihe von Erscheinungen, die uns in Staunen, in fröhlichste Laune, in Schrecken versetzen und die wir über uns ergehen lassen, ohne ihr Entstehen ergründen zu können.
Eine dieser rätselhaften Erscheinungen kennen nur die Männer, und zwar unter den Männern nur die, die spät nach Hause kommen, d.h. sehr spät - nämlich sehr früh. Es ist geradezu auffallend, daß in einer Zeit der Erfindungen, in der Patente nur so wachsen, noch keine einzige existiert, die den Lärm unmöglich macht, den der Ehemann hervorbringt, der spät nach Hause kommt. Man muß das selbst nur ein einziges Mal durchgemacht haben, um zu wissen, wie wichtig eine solche Erfindung wäre. Erfinder - nach vorn!
     Es ist spät geworden im Kreis der Freunde. Immer noch wurde ein allerletztes Glas getrunken. Es ist überhaupt erstaunlich, wie viele allerletzte Gläser dem letzten, wie viele letzte dem vorletzten Glas folgen können. Gestern Abend hat beim Abschied die Gattin gesagt: „Es wird wieder spät werden.“ Und nun ist es schönspät und spät schön geworden. Es nutzt nichts, wenn man seiner Frau sagt: „Du hast es gut, du kannst im warmen Bett liegen, Während ich auf dem harten Stuhl sitzen und kaltes Bier trinken muß.“ Sie hatte noch geäußert: „Du wirst wohl wieder die halbe Nacht aufbleiben!“ Und er, ein Mann von Ehre und Gewissen, hatte sie nicht enttäuscht.
     Eine Ehefrau hat bekanntlich meist einen festen Schlaf. Aber wenn der Mann nicht zu Hause ist, dann ist Morpheus leider so ungalant, sie nur oberflächlich in den Arm zu schließen, so daß sie immer wieder Zeit findet, auf die Uhr zu sehen und dann wieder einzuschlafen. Das weiß der Gatte - deshalb dreht er ganz, ganz leise den Schlüssel im Schloß der Haustüre herum. Das hat niemand gehört - denkt er -, aber kaum hat er den Hausflur betreten und will die Tür zuschließen, da beginnt der nächtliche Spuk. Die Tür fällt polternd ins Schloß, im ganzen Haus hört man den Widerhall.
     Er tappt nach der Treppe. Behutsam will er hinaufklimmen. Kaum ist er auf der ersten Stufe, knarrt sie. Bei Tage tut das die Stufe nie, da ist sie still und diskret. Niemals hat er sie bei Tage knarren hören, aber nachts macht sie Lärm. Warum nachts? Das eben ist das Rätsel. Nun geht er vorsichtig weiter; geht rechts hart an der Wand, Links hart am Geländer, erbarmungslos ertönt das Knarren, und nun stimmt das Geländer auch noch mit ein, ein Konzert - das Männer rasend machen kann!
     Gott sei Dank, der Aufstieg ist überwunden, er ist auf der mit seiner Ehe bedeckten Höhe seiner Etage angelangt. Nun beginnt er mit klopfendem Herzen die Wohnungstür aufzuschließen. Wenn nur seine Frau nicht aufwacht, die den Schlaf so nötig braucht wie den obligaten neuen Hut. Der Schlüssel ist umgedreht - er lauscht nach der Tür des Schlafzimmers. Gott Sei Dank, der aufatmende Gatte erhebt sich auf den Fußspitzen - ein wahres Trapezkunststück -, um Hut und Mantel abzulegen, die Uhr auf- und die Schuhe auszuziehen. Aber diese Schuhe! Am liebsten hätte er sie gar nicht ausgezogen. Man hat zwar geräuschlose Nähmaschinen, stille Teilhaber, Gummiräder, stumme Portiers, ja geräuschloses Pulver erfunden - aber geräuschlose Schuhe gibt es nicht. Der geplagte Mann preßt vorsichtig die Hacke des rechten Schuhs an die Spitze des linken. Da fängt auch hier ein Knarren an - er verliert die Balance und stolpert. Es ist entsetzlich. Und nun erklimmt er sein Lager mit einer Vorsicht, die jedem Bergsteiger zu empfehlen ist. Aber die Bettstelle knirscht wie der Schnee  unter den Bergschuhen eines Angeseilten.
     In dem Moment rührt sich die muntere Lebensgefährtin, dreht sich herum, und nicht nur sie, auch ihre alte Neugierde ist erwacht, sie sieht auf die Uhr, behauptet, überhaupt nicht geschlafen zu haben und erzählt ihm mit genauer Ausführlichkeit von der zugeschleuderten Haustür, der knarrenden Treppe, dem Lärm der Schuhe usw., endlos.
     Und nun, meine Damen und Herren, mache ich Ihnen den Vorschlag, der Gardinenpredigt, die ja in ihren Grundzügen allgemein bekannt ist, nicht beizuwohnen - und das Paar lieber allein zu lassen!