Wozu ist Kunst eigentlich gut?

Zum Tod von Christo

von Michael Zeller

Foto © Lars B. Gdaniec

Wozu ist Kunst eigentlich gut?
 
Zum Tod von Christo
 
Als ich am Morgen des 16. August 1977 das Radio im Bad anstellte, wie immer damals den amerikanischen Soldatensender AFN, bekam ich schnell mit, daß irgendetwas nicht stimmte. Ein Lied von Elvis Presley nach dem anderen ging über den Äther. Den Ansagen dazwischen fehlten die üblichen Albereien. Dann wurde trockenen Mundes die Meldung wiederholt: ELVIS DIED TONIGHT. Der Schock fuhr mir in die nackten Glieder. Als sei es ein Stück eigenen Todes. Morgenmantel über und unrasiert an die Schreibmaschine und ein Gedicht runter gefetzt auf meinen Elvis, ohne nachzudenken. Das pure Gefühl.
Mit den zwei Seiten fuhr ich gleich los nach Kassel, zur sechsten „documenta“. Erschüttert, aber auch abgelenkt von dem Text in der Jacke, an dem zu feilen war.
In dieser Stimmung entdeckte ich Christo. Auf der „documenta“ lief ein Film von seiner aktuellen Aktion, die er im Vorjahr im Kalifornien durchgeführt hatte, der „Laufende Zaun“ („Running Fence“): Auf und ab über die weitgehend nackten Hügel nördlich von San Francisco läuft ein Zaun aus weißen Stoffplanen, fünfeinhalb Meter hoch. Sie ziehen sich über die unglaubliche Länge von vierzig Kilometern, ehe sie am Ende in den Fluten des Pazifik versinken – wann je wäre Go west! sinnfälliger ins Bild gesetzt worden? Mehrere tief sitzende Mythen wurden dabei in mir angesprochen und machten mich stumm.
Das Anschauen von Christos „Laufendem Zaun“ vor über vierzig Jahren, nicht einmal mit eigenen Augen, sondern nur als Film, gehört zu meinen haltbarsten Erlebnissen mit Kunst. Es geschah unter Bedingungen, die nicht wiederholbar sind.
Doch das Leben geht weiter, und so die Kunst. Christos nächste Aktivitäten waren wieder weit entfernt, in Amerika oder Abu Dhabi. Es dauerte bis Mitte der 1980er Jahre, ehe Christo nach Europa zurückkehrte, nach Frankreich, die Heimat seiner Frau und Partnerin Jeanne-Claude. 1985 verpackte Christo die älteste Pariser Brücke über die Seine, den „Pont Neuf“ (erst später teilte Christo die Autorenschaft seiner Projekte auch namentlich mit seiner Frau).
Aus dieser größeren Nähe bekam ich die ungeheuren Anstrengungen wieder unmittelbarer mit, die Zähigkeit, mit der die beiden ihre Ziele verfolgten, die vor ihrer Verwirklichung samt und sonders unerreichbar schienen. Zehn Jahre lang waren die französischen Behörden zu beknieen gewesen, um das symbolträchtige Bauwerk der Renaissance aus dem späten 16.Jahrhundert verpacken zu dürfen: hier der Bürgermeister von Paris (Chirac), dort der französische Staatspräsident (Mitterand), zwei erbitterte Rivalen im Kampf um die Macht in Frankreich. Natürlich mußten auch die Anwohner gewonnen werden, die Medien. Ich bin immer noch unschlüssig, was mehr zu bewundern ist: die Hartnäckigkeit über Jahre in den Amtsstuben oder das Wunderwerk am Ende, vor dem sich dann alle Welt die Augen reibt, als noch etwas nie Gesehenes. Und das alles, ohne daß die beiden je eine Organisation im Rücken hatten oder einen Financier.
Als der zähe Weg endlich ausgeschritten war, ging die Arbeit selbst zügig voran. Die Verhüllung der Brückenbögen dauerte nicht länger als einen Monat. Denn jeder kleinste Schritt war minutiös vorbereitet. Dann machte ein großer Stab von Ingenieuren, Mathematikern, Statikern, Technikern, Froschmännern in der Seine und ein Heer von Hilfskräften sich daran, Hand anzulegen. Diese vier Wochen Arbeit vor Ort wurden ihrerseits, zumal mit der gewachsenen Attraktivität von Christo und Jean-Claude, selbst ein weltweit wahrgenommenes Spektakel.
Erstaunlich rasch war das Werk geschaffen und stand vor den Augen der Pariser und vor den Augen der ganzen Welt, weit über die eher engen Kreise hinaus, die sich normalerweise für zeitgenössische Kunst interessieren. Wie aus Karamell gegossen, in der Champagner-Farbe des Pariser Steins, spannte sich die Brücke über den Fluss und konnte bewundert werden – und begangen. Für vierzehn Tage. Keine Stunde länger.
Die kurz bemessene Frist gehört zur Inszenierung des Wunders dazu. Das Erleben ist auch eine Feier des Augenblicks. Jeder Augenblick ist kostbar und will so genossen sein. Die Gewöhnung des Auges, und damit ein Über-Sehen, wird damit verhindert. Die Trauer, daß das Wunder endlich ist und schon nach zwei kurzen Wochen wieder verlischt, für immer und ewig, verleiht der Gegenwart eine geradezu magische Kraft. Länger als zwei Wochen hält ein Mensch diese Intensität der Wahrnehmung wohl auch nicht aus. Was bleibt, sind Bilder – Abbilder, ein schwacher Abglanz.
„Und wozu ist das ganze eigentlich gut?“ Diese Frage habe ich, weitere zehn Jahre später, oft in Berlin gehört, im Angesicht der silbrig glänzenden gigantischen Kommode, in der Christo und Jean-Claude den Alten Reichstag versteckt hatten. Eine schöne Antwort darauf ist in Paris einem der Bergsteiger aus den französischen Alpen eingefallen, als sie die Kunststoffplanen über dem Pont Neuf festzurrten. „Und wozu ist das ganze eigentlich gut?“ Das könne er auch nicht sagen. So wenig, wie er wisse, warum er die Berge besteige und dabei sein Leben aufs Spiel setze.
Der Mensch ist ein König, wenn er spielt. Und nur dann.
Warum eigentlich schreiben die Menschen Gedichte?
 
Michael Zeller