Fronleichnam 2020

Etwas zum Namen eines Feiertags und zu seiner Datierung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Fronleichnam 2020
 
Etwas zum Namen eines Feiertags und zu seiner Datierung
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Corona hat Anno Domini 2020 dafür gesorgt, daß wohl zum ersten Mal seit dem 13. Jahrhundert dieser katholische Feiertag nicht mit Prozessionen begangen werden konnte. Papst Urban IV. hatte den Feiertag im Jahr 1264 für die ganze Kirche verordnet. Um den Festgedanken sinnenfällig zu machen, kam es schon 1279 zu einer ersten Prozession in Köln, die von der Gereonskirche ausging und dort feierlich endete. Luther lehnte den Festtag energisch als „das allerschändlichste Fest“ ab, an dem die katholische Kirche „Abgötterei“ treibe, so daß sich viele Protestanten zu handfesten Ablehnungen gegen die Umzüge, jedenfalls aber zu Schmähungen des ganzen Feiertags als solchem veranlaßt sahen. Beispielsweise fuhren gerade an Fronleichnam die Bauern demonstrativ den ganzen Tag über mit Getöse Mist auf ihre Äcker. Die Katholiken wehrten sich, indem sie am Karfreitag als dem höchsten evangelischen Feiertag möglichst lauthals 'knechtliche Arbeiten' verrichteten (die an Sonn- und Feiertagen grundsätzlich untersagt waren - aber in der katholischen Kirche eben nicht am Karfreitag, der nicht zu diesen Feiertagen zählt). Noch meine Eltern (Jahrgang 1902 und 1903), die aus jeweils unmittelbar ans evangelische Hessen grenzenden katholischen Gemeinden im Sauerland (Obermarsberg) und im Mainfränkischen (Pflaumheim) stammten und seit Ende des Ersten Weltkriegs in Düsseldorf lebten, pflegten sich noch regelmäßig an Karfreitagen schwere häusliche Tätigkeiten, wie etwa mühselige Gartenarbeiten oder besonders anstrengendes Tapezieren der Wohnung, vorzunehmen.
 
Das Fronleichnamsfest erinnert an die Einsetzung des Abendmahls, das Christus mit seinen zwölf Aposteln am Donnerstag vor Ostern gefeiert hatte. Man ehrt an diesem Fest die eucharistische Gegenwart Jesu im Altarssakrament. Am Gründonnerstag ziemte sich keine festliche Feier, weil der Tag in der von Trauer und Fasten geprägten Karwoche liegt. Also wurde die Feierlichkeit quasi nachgeholt, und zwar am Donnerstag nach der Pfingstoktav, dem Sonntag Trinitatis, elf Tage nach dem Pfingstfest.
 
Das Fest, an dem die Gegenwart des Leibes Christi in Gestalt der Hostie gefeiert wurde, erhielt den lateinischen Titel „Corpus Christi“ (Leib Jesu), wie er heute noch in einigen anderen Sprachen gebräuchlich ist (etwa italienisch „Festa del corpus Domini“ oder englisch „Corpus-Christiday“). In der deutschsprachigen Liturgie ist der Name des Feiertags „Hochfest des Leibes Christi“. Im Volksmund kam schon im 13. Jahrhundert der Name „vrône lîcham“ (Herrenleib) auf. Im Mittelhochdeutschen bezeichnet „vrô(ne)“den „Herrn“, „lîcham“ den menschlichen Körper (heute noch aus veralteten Bezeichnungen wie „Fronhof“, Fronknecht“ oder „frönen“ verständlich): „lîcham“ wurde im Übergang zum Frühneuhochdeutschen scheinbar tautologisch als „todte Leiche“ bezeichnet gebraucht, um den toten vom lebendigen Leib zu unterscheiden, ehe der Begriff durch Bedeutungsverengung bis heute nur noch in der Form „Leichnam“ als Bezeichnung einer menschlichen Leiche gebraucht wird.
 
In der Gegenwartssprache wird der Festtitel „Corpus Christi“ bzw. „Fronleichnam“ häufig falsch erklärt, indem man den ersten Teil des Kompositums an „froh“ anlehnt und den zweiten Teil als „Leiche“ mißversteht. So wird aus dem „vrône lîcham“ (Herrenleib) ein „froher Leichnam“. Dieses unbewußte Mißverständnis wird dann von Glaubenskritikern bewußt in Form eines Dysphemismus (im Gegensatz zum Euphemismus eine negative Abweichung von der Norm) mißbraucht, wie klar aus dem in der englischen Sprache neuerlich verbreiteten Begriff „happy kadaver“ erhellt.
 
Es bleibt die Frage, warum Papst Urban IV. Fronleichnam verbindlich für den ersten Donnerstag nach dem Dreifaltigkeitssonntag vorschrieb (die Datierung auf einen Wochentag führte bis heute zu Irritationen, wenn katholische Arbeitnehmer in Bundesländern, in denen Fronleichnam kein gesetzlicher Feiertag ist, den Festtag ihrer Kirche für sich als bezahlten arbeitsfreien Tag einforderten).
 
Die Wahl des Wochentags ist ohne weiteres einleuchtend. Warum aber wurde aus-gerech-net der erste Donnerstag nach Trinitatis und nicht der zweite oder dritte gewählt? Seit dem Urchristentum und bis weit in die Barockzeit des 17. Jahrhunderts hinein pflegte die Kirche ihre teilweise aus dem Judentum übernommenen Festdaten auch im Blick auf zahlensymbolische Bedeutungen festzulegen. So wurde Pfingstsonntag, auch entsprechend der griechischen Herkunft seiner Bezeichnung πεντηκοστή (ημέρα) - der Fünfzigste (Tag) -, auf den fünfzigsten Tag nach Ostern datiert. Die Teilersumme von 40 ist 50 (1+2+4+5+8+10+20=50); also datierte man das Fest Christi Himmelfahrt auf den vierzigsten Tag nach Ostern, weil Christus verheißen hatte, er werde nach seiner Himmelfahrt den Geist senden. Die Pfingsten, das Hochfest des Heiligen Geistes, bestimmende Zahl 50 wurde also als ein Sproß aus der Zahl 40 (Teilersumme) aufgefaßt und Christi Himmelfahrt demnach an diesem vierzigsten Tag nach Ostern gefeiert.
 
Meines Wissens hat noch niemand in Erwägung gezogen, ob der Fronleichnamstag im 13. Jahrhundert nicht auch wegen einer zahlensymbolischen Bedeutung unveränderlich auf den elften Tag nach Pfingsten festgesetzt wurde. Es ist zumindest einer Überlegung wert, dazu das Neue Testament zu Rate zu ziehen.
 
Das Abendmahl hatte Christus noch mit seinen zwölf Aposteln begangen. Deren Zahl war kurze Zeit danach dezimiert, weil sich der Verräter Judas noch vor der Kreuzigung Christi erhängt hatte (Matth. 27,5). Seitdem gab es nur noch elf Apostel. Auf diese Zahl rekurriert die Bibel im Zusammenhang mit der Zahl der Apostel merkwürdig oft. Der Verfasser der Apostelgeschichte beschließt seinen Bericht über die Wahl eines zwölften Apostels nach dem Tod des Judas und nach der Himmelfahrt Christi mit ausdrücklicher Nennung der Zahl Elf (Apostelgeschichte 1.15-26):
 
                        „Und in den Tagen trat auf Petrus unter die Jünger und sprach:                
                        '[…] es mußte die Schrift erfüllet werden, welche vorhergesagt               
                         hat der Heilige Geist durch den Mund Davids [Psalmen 41.10,               
                         69.26 und 109.8] von Judas […], er war zu uns gezählt und                                  
                         hatte dies Amt mit uns überkommen[…]. Dieser […] ist                          
                         abgestürzt und mitten entzwei geborsten […]. Es steht
                         geschrieben, sein Amt soll ein anderer erhalten. So muß nun                    
                         einer unter diesen Männern [...] ein Zeuge seiner [Christi]                                      
                         Auferstehung mit uns werden […]. Und sie warfen das Los        
                         über sie, und das Los fiel auf Matthias; und er ward zugeordnet             
                         zu den elf Aposteln.“
 
Seit den Tagen Jakobs, des Enkels Abrahams, ging man davon aus, daß dessen zwölf Söhne zu Stammvätern des Volkes Israel bestimmt waren. In diesem Zusammenhang wird in der Genesis (1. Mos. 32.23 und 37.9) im Hinblick auf die Sonderstellung des Joseph für seine Brüder zweimal die Zahl Elf ins Spiel gebracht, so daß die Junktur 11 : 1, die bei der Wahl des 'Ersatzapostels' eine entscheidende Rolle spielt, hier vielleicht vorgegeben sein könnte. Wie dem auch sei: Im Neuen Testament wird in Berichten von der Zeit nach der Himmelfahrt Jesu auffallend oft auf die seit dem Verrat des Judas auf Elf reduzierte Zahl der Apostel hingewiesen. Thomas war „der Zwölfen einer“, den die andern elf Apostel von der Auferstehung Jesu überzeugen wollten (Joh. 20.24); „aber die elf Jünger gingen nach Galiläa“ und wurden dort Zeugen der Himmelfahrt (Matth. 28.16-20); „zuletzt, da die Elf zu Tische saßen“, erschien ihnen der Auferstandene (Mark. 16.14); die drei Marien kehrten vom leeren Grab Christi zurück „und verkündigten das alles den Elfen“ (Luk. 24.9).
 
Jesus hatte in bewußtem Rückgriff auf die Zahl der zwölf Stämme Israels, die sich aus zwölf Söhne Jakobs begründeten, seine zwölf Apostel berufen, wie er selbst es ihnen bestätigte (Matth. 19.28):
 
                        „Jesus aber sprach zu ihnen: 'Wahrlich ich sage euch: Ihr, die                    
                        ihr mir seid nachgefolgt, werdet in der Wiedergeburt, da des
                        Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit,                 
                        auch sitzen auf zwölf Stühlen und richten die zwölf Stämme                   
                        Israels'.“
 
Auch um diese Prophezeiung nicht falsifizieren zu müssen, wollte Petrus als Führer der durch das Ausscheiden des Judas auf Elf dezimierten Apostel die von Christus selbst bestimmte Zwölfzahl wieder herstellen.
 
Fronleichnam, die Feier zum Gedächtnis des Abendmahls, das Christus mit seinen zwölf Aposteln beging, wurde vielleicht auch mit dem Gedanken an die Symbolik der Zahlen, welche die Bibel von da an bis zur Wahl eines neuen Apostels nennt, genau auf den elften Tag nach Pfingsten festgesetzt. Beim Abendmahl war die gleichsam heilige Zahl Zwölf noch in Gestalt der Apostel präsent. Kurz danach reduzierte sie sich auf Elf; darauf ist in den Evangelien mehrfach deutlich angespielt, bis anläßlich der Apostelwahl nach Pfingsten die gewollte Zwölfzahl wieder hergestellt ist. In den biblischen Berichten über die Zeit zwischen Gründonnerstag und Fronleichnam wird, wie hier belegt, auffallend häufig prononciert die gleichsam defekte Zahl Elf genannt. Diese wird denn doch wohl nicht zufällig am elften Tag nach Pfingsten von der ursprünglichen Zwölfzahl verdrängt. Im frühen Deutsch heißen die Apostel noch die „Zwelf Botten“, deren Andenken am Fronleichnamstag denn auch zugleich mit der Erinnerung an das Abendmahl, das Jesus mit den Zwölfen beging, gefeiert wird. So nennt man noch heute in manchen deutschsprachigen Gegenden das „Fest der Aussendung der Apostel“ am 15. Juli „Zwölfbotentag“.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

 

 Redaktion: Frank Becker