„Faust“-Splitter

Spuren Weimarer Literatur in der Tragödie erster Teil

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Faust“-Splitter
 
 Spuren Weimarer Literatur in der Tragödie erster Teil
 
Von Heinz Rölleke
 
Seit die verwitwete Herzogin Anna Amalia 1772 den Dichter Christoph Martin Wieland nach Weimar berufen hatte, entwickelte sich die thüringische Kleinstadt zu einem Musenhof, dessen Ruhm alsbald in ganz Europa erstrahlte und bis heute nicht verblaßt ist, denn dort lebten und  wirkten seit 1775 auch Goethe und seit 1776 dessen früherer Freund und Förderer Johann Gottfried Herder.
 
Goethe hatte schon 1770 für Herder im Elsass Lieder gesammelt, die zum Teil in dessen bahnbrechender Anthologie „Volkslieder“ (Leipzig 1778/79) Aufnahme fanden, aus der Goethe seinerseits vielfach Stoffe und Anregungen für seine eigenen Dichtungen gewann; das berühmteste Beispiel dürfte die 1782 entstandene „Erlkönig“-Ballade sein, die auf Herders aus dem Dänischen übersetzen Lied „Erlkönigs Tochter“ basiert.
In seiner Farce „Götter, Helden und Wieland“ hatte sich der junge Goethe noch 1774 satirisch mit Wieland auseinandergesetzt, während er ihn in seiner Weimarer Zeit rückhaltlos bewunderte. Nach dem Erscheinen von Wielands „Oberon“, an dessen Entstehung er schon lebhaften Anteil genommen hatte, sandte Goethe ihm am 23. März 1780 einen Lorbeerkranz und nannte das Versepos „ein Meisterstück poetischer Kunst“; in „Dichtung und Wahrheit“ bekannte er, Wielands „Musarion“ habe „am meisten“ auf ihn gewirkt, und noch der alt Goethe sagte zu Eckermann: „Wielanden verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil.“
 
Die Schriften der drei Geistesgrößen Wieland, Goethe und Herder stehen in wechselseitiger Verbindung, wobei Zitate oder Anspielungen überwiegend unbewußt übernommen sein dürften; hier von Plagiaten zu sprechen, wäre wohl abwegig.
 
Spuren von Anklängen der „Faust“-Dichtung an Formulierungen in Herders „Volksliedern“ und Wielands zahlreichen Verserzählungen hat man schon immer vermutet, aber nur ansatzweise nachgewiesen, doch  finden sich in der Menge der Kommentare zu „Faust I“ kaum Erläuterungen zu diesen Gegebenheiten. In Wikipedia liest man denn auch die pauschale Behauptung, Wielands „Oberon“ habe „Faust II“ beeinflußt, und in der „Faust“-Edition von Albrecht Schöne (1994), die man nicht ganz zu recht als ultimative Zusammenfassung und Weiterführung aller bisherigen Einzelerläuterungen lobt, finden sich die Namen Wieland und Herder nur selten. Um diese Lücke ein wenig schließen zu helfen, sind im folgenden einige Verse aus „Faust I“ in der Reihenfolge ihres Auftretens angeführt, deren sprachliche Wendungen anscheinend in wechselseitigem Bezug zu Aussagen und Formulierungen Herders und Wielands stehen könnten, wobei für ersteren nur zwei Beispiele aus der Fülle der Querverbindungen nachgewiesen seien.
 
v. 486   Du flehst, eratmend mich zu schauen
                        Herder   Ich suche […] dich zu eratmen, dich zu sehen
v. 2693 Wie atmet rings […] Zufriedenheit!
                In dieser Armut welche Fülle!
                In diesem Kerker welche Seligkeit!           
                        Herder   So finden wir in Armut Fülle,
                                        In Mäßigung Zufriedenheit
 
Auf Parallelen in Wielands Werken wird nur mit dem entsprechenden Titel hingewiesen.
                       
v. 610   dem ärmlichsten von allen Erdensöhnen
                        Oberon  der erste aller Erdensöhne
v. 652f.   Den Göttern gleich' ich nicht! […] dem Wurme gleich' ich
                        Musarion  Mich bald zum Gott und bald zum Wurm zu machen
v. 682f.   Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es
                        Oberon  Was die Geburt mir gab, sei nun durch Tugend mein
v. 1350   Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, […] das nun                        
              der Mutter Nacht den alten Rang […] ihr streitig macht
                        Musarion  Wie aus der alten Nacht
                                               die schöne Welt entsprungen
v. 2717f.  Und du! Was hat dich hergeführt? […] was willst du hier?
                         Oberon  Und du, was gehst du zu beginnen?
v. 3175f.   was sich […] hier zu regen gleich begonnte
                          Oberon  kaum begonnte sie
v. 3285      zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen
                          Oberon  Fühlt sich unsterblich, wird zum Gotte
v. 3328            Bring die Begier zu ihrem süßen Leib
                        Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!
                          Oberon  Doch ihre Schönheit schüret
                                          Das Feuer der Begier zugleich in seinem Blut
v. 3363            was muß geschehn, mag's gleich geschehn!
                          Urteil des Paris  was sein soll, muß geschehen!
v. 3452f.         Nenn es dann, wie du willst,
                        Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
                          Oberon  Nenn wie du willst, den Stifter unsrer Triebe,
                                          Vorsehung, Schicksal, Oberon   
v. 4222      [Titel] OBERONS UND TITANIAS GOLDNE HOCHZEIT
v. 4393f.   Folget meiner leichten Spur,
                    Auf zum Rosenhügel! [zu Oberons Palast]
                          Oberon  Als plötzlich, wie aus Abendrot gewebt,
                                          Ein schimmernder Palast vor ihren Augen schwebt.                                   
                                          In einem Lustwald, mitten zwischen
                                          Hoch aufgeschoss'nen vollen Rosenbüschen
                                          Stand der Palast  [Oberons]                              
 
In Albrecht Schönes „Faust“-Kommentar sind zu den hier angezogenen Versen bis auf die beiden letzten die Namen Herders und Wielands nicht genannt. Zum Goethe'schen Zwischentitel nennt er immerhin die Namen Shakespeare, Wieland und Wranitzky nebeneinander; nur zum Motiv des Rosenhügels findet sich ein Hinweis auf das „Ende von Wielands Stanzen-Epos 'Oberon' […] Palast des Elfenkönigs.“
 
Man hat die Germanisten zuweilen gescholten, sie würden gerade den „Faust“ zu Tode kommentieren und so die eigentlichen Aussagen auf diese Weise zuschütten. Hier sollte ein Hinweis gegeben werden, daß offenbar auch nach zweihundertjährigem Bemühen immer noch einige Erläuterungen fehlen.
 

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020

 Redaktion: Frank Becker