Thomas M. Disch: Angouleme
Als Verrazzano, Seefahrer aus Florenz in Frankreichs Diensten und Kapitän der Karavelle „La Dauphine“, 1524 in der Bucht vor Anker ging, an der heute New York liegt, nannte er die neuentdeckten Gestade „Angoulême“, zu Ehren seines Königs, Franz I. von Frankreich. Heute leben an diesen Gestaden mehr als 12 Millionen Menschen, ein großer Teil von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Morgen werden es noch mehr sein.
New York ist bankrott, kann seine Angestellten nicht mehr bezahlen, lebt auf Pump; seine Parke sind gefährlicher als die Dschungel Neu-Guineas und das Analphabetentum in den Slums gleicht dem in unterentwickelten Ländern. New York siecht dahin, stirbt auf Raten - und ist doch von einer unbezähmbaren Vitalität. Hubert Selby hat in seinem Roman Letzte Ausfahrt Brooklyn die Trostlosigkeit und morbide Faszination dieser Stadt eingefangen, wie sie sich heute darbietet. Thomas M. Disch, in der selben Haßliebe mit diesem Monstrum einer Stadt verbunden, schildert den todkrank dahinsiechenden, unsterblichen, schmarotzenden Koloß mit seinen Künstlern, Tagedieben und Fürsorgeempfängern, seinen irren und ausgeflippten Typen, wie er sich in naher Zukunft darbieten wird, wenn nichts für diese Stadt geschieht. Angoulême: New York in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts. Endstation der Entwicklung? Müllkippe der Zivilisation? - Oder Nährboden der Zukunft?
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