Ein Umweg
Wir waren noch auf der Plauer Chaussee, der nach Osten führenden Ausfallstraße, als mir der Gedanke kam, über Mierendorf zu fahren, ein Dorf rund 10 km östlich von Güstrow, kein großer Umweg für uns. Ein Onkel 2. Grades, Stephan von le Fort, ein Bruder der Dichterin Gertrud von le Fort, hatte dort ein Gut besessen, das unter bemerkenswerten Umständen in seinen Besitz gekommen war. Nur dieser Umstände wegen interessierte mich das Gut. Onkel Stephan zählte zu jenen ostelbischen Adligen, die den Untergang der preußischen Monarchie nicht verwinden konnten. Er nahm am Kapp-Putsch teil, indem er sich bemühte, den Anordnungen der Putsch-Regierung in seinem Umkreis Geltung zu verschaffen. In Waren am Nordufer der Müritz hatten im Spartakusbund vereinte Arbeiter zum Streik gegen die Putsch-Regierung aufgerufen. Stephan, damals noch Besitzer von Boek, des am Ostufer der Müritz gelegenen Majoratsgutes der Freiherrn von le Fort, scharte eine Gruppe aus dem Baltikum zurückgekehrter Freikorpskämpfer um sich – er war einer von ihnen, hatte selbst an Freikorpskämpfen im Baltikum teilgenommen – und verhängte zusammen mit einem jüngeren Vetter den Belagerungszustand über Waren. Das war nicht nur so dahingesagt. Denn als man seinen Forderungen keine Folge zu leisten versprach, ließ er die Stadt von einem nahe gelegenen Hügel mit einer Kanone und drei Maschinengewehren beschießen. Es gab Tote und Schwerverletzte. Stephan erkannte die Aussichtslosigkeit seiner tolldreisten Tat und floh mit seinem Vetter nach Süddeutschland. Die mecklenburgische Landesregierung konfiszierte Boek. Jahre später fiel Stephan unter eine Generalamnestie des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, das Gut wurde zurückgegeben. 1935 mußte das Gut erneut hergegeben werden. Man brauchte es für das militärische Versuchsgelände in Rechlin. Stephan bekam eine Entschädigung und erwarb dafür das Gut Mierendorf. Die Ahnenbilder und das Familienarchiv verbrachte er dorthin. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ging alles in Flammen auf. Wir würden dort nichts mehr zu sehen bekommen. Wozu also deswegen 20 km Umweg? Ich gab den Gedanken auf. Ohnehin wäre es schwierig gewesen, U. zu diesem Schlenker zu überreden. Meinem Interesse an der Familiengeschichte begegnete sie fast immer mit freundlichem Spott. ‚Ah, dort gibt es wieder einmal das Gutshaus eines Vettern zu sehen’, hätte sie diesmal gesagt, vermutete ich. Nicht wo ein Verwandter gelebt hatte, fand sie interessant, sondern wovon er gelebt und wie er sich politisch orientiert hatte. Aber wo er gelebt hatte, der genius loci, fügt seinem Bild manchmal eine markante Schattierung bei, dachte ich.
Wolf Christian von Wedel Parlow, Auszug aus „Durch altes Slawenland. Eine Radreise von Rostock nach Berlin.“ S. 18 f, unveröff. Manuskr.
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