Demontiert die heile Welt der Klassik

„Das Vorspiel“ von Ina Weisse

von Renate Wagner

Das Vorspiel
Deutschland / 2019

Drehbuch und Regie: Ina Weisse
Mit:
Nina Hoss, Simon Abkarian, Jens Albinus, Sophie Rois,
Ilja Monti, Serafin Mishiev u.a.
 
Wie wird man zum Künstler? Man bekommt es nicht geschenkt. Hinter großen Solisten – Sänger, Pianisten, Geiger, alle einfach – steht nicht nur der persönliche Ehrgeiz, sondern oft auch die Intensität, mit denen Lehrer ihre Schüler vorantreiben. Das kann – wie alles im Leben – extrem und vernichtend werden. So wie die Stunden, die Anna Bronsky in ihrer Musikschule gibt. Regisseurin Ina Weisse erzählt eine Geschichte, die an ihrem Ende an Besessenheit grenzt.
Wie auch in ihrem ersten Spielfilm „Der Architekt“ (2008, mit Josef Bierbichler) bewegt sich Ina Weisse auch in ihrem zweiten in Künstlerkreisen. Und sie greift das bekannte Motiv auf, daß persönliches Scheitern später durch jemand anderen korrigiert und kompensiert werden soll. Nach und nach erfährt man, dass Anna selbst vielleicht das Zeug, aber nicht die Nerven zur Künstlerin gehabt hat. Nun peitscht sie auf den jungen Alexander (Ilja Monti) ein, obwohl nur sie von seinem übergroßen Talent überzeugt ist. Frau Köhler, die Kollegin an der Schule (Sophie Rois) steht ihm eher distanziert gegenüber. Aber Anna brennt innerlich: Sie wird diesen Jungen groß machen, koste es sie (und ihn, das steht für sie gar nicht zur Debatte), was es wolle… Was sie da auf das schrecklichste entwickelt, ist auch der Wille zur Macht.
Schritt für Schritt, langsam, nur nach und nach an Intensität und letztlich auch an Pathos zunehmend, entwickelt sich die unglückselige Geschichte. Die Eifersucht von Annas Sohn Jonas (Serafin Mishiev), der auch Geige spielt wie der gleichaltrige Alexander und diesem so brutal hintangesetzt wird. Das spürbare Bröckeln ihrer Ehe mit dem französischen Gatten (Simon Abkarian), mit dem sie auch Französisch spricht. Das Verhältnis, das sie mit ihrem Kollegen Christian (Jens Albinus) eingeht, der sie (gegen die Skepsis der anderen Musiker) in sein Quintett aufnimmt (und wo sie dann versagt).
Und so kommt es in beklemmender Verdichtung schließlich zur Katastrophe, als beide Jungen scheitern – der eine an den unmenschlichen Anforderungen an sein Könnens, der andere an den Zurücksetzungen, die er erfahren muß. Das Unglück, das kommt, könnte schlimmer sein – aber es ist schlimm genug.
 
Im Grunde zeichnen Drehbuch (die Regisseurin mit Daphne Charizani) und Regie die tragische Geschichte eines menschlichen Versagens, und es geht dabei um Anna allein, die alles um sich herum kaputt macht. Man könnte sie sich als dominierende Glitzerpersönlichkeit vorstellen, von der man auf der Leinwand fasziniert überrollt wird. Das Besondere des Films besteht aber in der Selbstverständlichkeit und äußeren Normalität, mit der Nina Hoss diese Anna spielt, wie sie die Figur nicht aufputzt, nicht schillernd macht, sondern all das Dunkle in ihrem Inneren versteckt. Und man begreift es – mit leisem Schauder – nur zu gut, welcher kranke Machtrausch sie antreibt.
Wesentlich für den Kinobesucher ist, dass er klassische Musik wirklich liebt. Sie ist nämlich hier nicht Aufputz, nicht Hintergrunds-Gesäusel, sondern integraler Bestandteil der Geschichte und prominent vertreten. Jene klassische Musik, die das Leben so vieler Künstler qualvoll antreibt – um den Zuhörern einfach nur simples Glück zu verschaffen. Ohne einen Gedanken an die Schmerzen und Leiden zu verschwenden, die möglicherweise hinter einer perfekten Leistung stehen. Von der Jelinek’schen „Klavierspielerin“ über „Lara“ (unlängst mit Corinna Harfouch im Kino) bis zu „Das Vorspiel“ wird die scheinbar so heile Welt der Klassik hinter den Kulissen demontiert.

 
Renate Wagner