„Die Gedanken sind (zoll)frei“ (2)

Geschichte und Ausdeutungen eines berühmten Zitats

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 
„Die Gedanken sind (zoll)frei“
 
Geschichte und Ausdeutungen eines berühmten Zitats (2)

 
Von Heinz Rölleke


Zwei Jahre später kann man in Wielands „Prevonte“ lesen: „Was mancher in geheim vor seinem Spiegel dachte, ging zollfrei durch.“
Im Gedicht „Eine Fabel“ von Matthias Claudius ist der Gedanke weiter ausgeführt. Der Bär wird als Zensor für die jüngst beängstigend angestiegene Zahl von Schriften und deren Lesern inthronisiert:






                                        „Und Zensor war: der Brummelbär. -
                                        Da kam man supplicando ein:
                                        'Es sei unschicklich und sei klein,
                                        Um seine Worte und Gedankenfreiheit                               
                                        Erst mit dem Brummelbär zu zanken,
                                        Gedanken müßten zollfrei sein!'
                                        Der Löwe sperrt den Bären ein,
                                        Und tat den Spruch: 'Die edle Schreiberei
                                        Sei künftig völlig frank und frei!'“
 
Das fabula docet warnt dann überraschend (wie etwa gleichzeitig Johann Gottfried Herder, s.o.) vor Gedankenfreiheit, denn als alle Tiere daraufhin munter darauflos schrieben, „daß es ein Brei und Greuel war“, resümiert der enttäuschte Löwe:
 
                                       „Ich rechnete, aus angestammtem Triebe,
                                       Auf Edelsinn und Wahrheitsliebe -
                                       Sie waren es nicht wert die Sudler, klein und groß;
                                       Macht doch den Bären wieder los!'“
 
Als ähnlich gefährlich, wenn auch auf einem anderen Terrain, scheint Nestroy in seiner Komödie „Der Talismann“ (1843) die Sache anzusehen:
 
                                       „Gedanken sind zollfrei. Ah nein: es gibt Gedanken, für
                                       die man den Zoll mit der Herzensruh' bezahlt.“
 
Fontane läßt die Wendung in seinem Roman „Effi Briest“ (1895) im Dialog zwischen Effi und dem Major Crampas diskutieren:
 
                                       „'Ich glaube, Major, Sie hielten es für ganz in der
                                       Ordnung, wenn ich Ihnen eine Liebeserklärung machte.'
                                       'So weit will ich nicht gehen. Aber ich möchte
                                       den sehen, der sich dergleichen nicht wünschte.
                                       Gedanken und Wünsche sind zollfrei.' 'Das fragt sich.
                                       Und dann ist doch immer noch ein Unterschied
                                       zwischen Gedanken und Wünschen. Gedanken sind in
                                       der Regel etwas, das noch im Hintergrunde liegt,
                                       Wünsche aber liegen meist schon auf der Lippe.'“
 
Auch im 20. Jahrhundert ist die Wendung häufig anzutreffen, etwa in satirischer Form bei Carl Kraus („Gedanken sind zollfrei. Aber man hat doch Scherereien“) oder im Titel des Romans „Gedanken sind zollfrei“ von George Minkes (1973). Aus jüngster Zeit kann man noch eine Überschrift in den „Salzburger Nachrichten“ vom 9. Februar 2019 zitieren: „Nur die Gedanken sind zollfrei.“
 
Schon im Jahr 1751 konnte Gottlieb Wilhelm Rabener in seiner „Sammlung satyrischer Schriften“ eine ganze Abhandlung zum „Sprüchwort Gedanken […] sind zollfrey“ bieten. In der Tat war die antike Definition der Gedankenfreiheit seit dem Mittelalter im deutschsprachigen Raum zum weit bekannten Sprichwort geworden, das in der mittelhochdeutschen Literatur ab dem 11. Jahrhundert dutzendfach belegt ist. Freidank zitiert es in seiner Sammlung „Bescheidenheit“ mehrfach:
 
                                        „Gedanke und troume sint sô frî.“

                                        „Dar umbe sint gedanke frî.“
 
                                        „Die bant kan niemen vienden,
                                        diu gedanke mugen binden
                                        […]
                                        gedanke nieman vâhen kan.
 
                                        Keiner kann Bande finden, die vermöchten, Gedanken zu
                                        fesseln; Gedanken kann niemand einfangen, erjagen.
 
Gleichzeitig formuliert Walther von der Vogelweide: „Joch sint jedoch gedanke vrî.“ Der Spruch findet sich dann in 35 - also so gut wie in allen - zwischen 1529 und 1850 erschienenen Sprichwörtersammlungen.
 
Wie schon eingangs bemerkt, gibt es im Verlauf der deutschen Literaturgeschichte auch gegenteilige Behauptungen und Warnungen vor der liberalen Tendenz, zum Teil ebenfalls in Form von Sprichwörtern, wie etwa „Gedanken sind zollfrei – aber nit höllenfrei.“ Das heißt, es ist durchaus möglich oder gar wahrscheinlich, daß man für einen Teil seiner Gedanken mit der ewigen Höllenstrafe belegt wird, da Gott ja in die Herzen des Menschen, in seine geheimsten Gedanken sehen kann. So schärfte es auch der pietistische Pfarrer und Liederdichter August Hermann Francke (bis heute vor allem als Gründer der Francke'schen Stiftung im Jahr 1698 bekannt geblieben) in seinen Predigten immer wieder ein: Gedanken sind alles andere als straffrei, sie können einen nach dem Tod in die Hölle bringen. In diesen und ähnlichen Überlegungen sind die Sündenbekenntnisse der katholischen Kirche im Staffelgebet („Confiteor“) und in den Beichtspiegeln ausgefaltet: „[...] quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere“ (daß ich vielfältig gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken); in der Vorbereitung einer Beichte soll der Gläubige bedenken, ob er „im geringsten sich durch Gedanken […] wider die Tugend der Reinigkeit versündigt“ hat, „da alle Sünden dieser Art Todsünden sind […]. Prüfe dich also, ob und wie du gesündigt 1) innerlich durch freiwilliges Verweilen bei unreinen Gedanken, Wünschen, Begierden […].“
 
Im 23. Kapitel seines berühmten „Simplizissimus“-Romans (erschienen 1669) schreibt Grimmelshausen:
 
                                       „[...] daß ich vermittelst göttlicher Hülf und Gnade dahin kam, daß
                                       ich keinen einzigen Feind mehr spürete als meine eigene Gedanken,
                                       die oft gar variabel stunden. Dann diese seind nicht zollfrei vor
                                       Gott, wie man sonst zu sagen pfleget; sondern es wird zu seiner Zeit
                                       ihrentwegen auch Rechenschaft gefordert werden.
 
„Rechenschaft“ muß der Mensch demnach nicht nur über seine Worte und Werke, sondern auch über seine unausgesprochenen Gedanken ablegen. Ähnlich sieht es auch der Barockprediger Abraham a Santa Clara:
 
                                       „Alle, auch die größten Sünden haben mit Gedanken angefangen
                                       Gedanken sind deßwegen nicht unschädlich, nicht zollfrei.“
                       
Solche Meinungen wurden weitergetragen und begegnen gegenwärtig etwa in der Zeitschrift „Die Gralsbotschaft“:
 
                                       „Die Menschen sind gewöhnt, zu sagen, daß Gedanken 'zollfrei'
                                       sind. Damit wollen sie andeuten, daß sie für Gedanken irdisch nicht
                                       zur Rechenschaft gezogen werden können […]. Deshalb spielen sie
                                       oft in leichtfertigster Weise mit Gedanken […]. Leider oft ein sehr
                                       gefährliches Spiel, im leichtfertigen Wahne, daß sie daraus
                                       unangetastet hervorgehen können. Darin irren sie jedoch; denn auch
                                       Gedanken sind der Grobstofflichkeit zugehörig […].“
 
In derselben Zeitschrift erschien am 20. November 2011 eine Auslegung des Psalmverses 19.14:
 
                                       „Ein Sprichwort sagt: 'Gedanken sind zollfrei.' Aber das ist ein
                                       gefährlicher Irrtum. Man kann dich zwar wegen deiner Gedanken            
                                       nicht vor ein irdisches Gericht laden, aber glaube mir: Vor dem
                                       letzten Gericht wirst du für sie Rede stehen müssen […]. Gott wird
                                       nicht nur sündige Taten, sondern auch sündige Gedanken strafen
                                       […]. Sündige Gedanken können kommen […] und wer böse
                                       Gedanken in sich verarbeitet, der hat seine Freude daran und wird
                                       bald zu bösen Taten fortschreiten.“
 
„Die Gedanken sind frei“ - die Eingangsworte eines seit 1780 überlieferten Liedes, das Achim von Arnim in überarbeiteter Form 1808 im dritten Band der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen hatte, machten den Spruch weltweit überaus populär:
 
                                               „Lied des Verfolgten im Thurm.
 
                                               Die Gedanken sind frey,
                                               Wer kann sie errathen;
                                               Sie rauschen vorbey                          
                                               Wie nächtliche Schatten.
                                               Kein Mensch kann sie wissen,
                                                Kein Jäger sie schiessen;
                                               Es bleibet dabey,
                                               Die Gedanken sind frey.“
 
Der die Strophe beschließende Refrain wird noch viermal wiederholt und prägt sich so besonders ein. Daß das Lied in Arnims Quelle noch eine bestimmtere Stoßrichtung hatte, machen Hinweise auf die Gefängnisstrafe für Freidenker deutlich: in der drittletzten Zeile hieß es „Kein Kerker verschliessen“, und später „und fesselt man mich im finsteren Kerker“ (eine Wendung, die noch nach sechshundert Jahren Freidanks Bild tradiert, daß es keine Fesseln für die freien Gedanken gibt). Gustav Mahler hat das „Wunderhorn“-Lied 1905 vertont und damit die Parole auch in die Konzertsäle aller Welt gebracht. Die populäre Rezeption des Liedes erreichte in der deutschen Wandervogel- und Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Gipfel mit dem 1909 von Hans Breuer zusammengestellten, in schier ungeheurer Zahl verbreiteten „Zupfgeigenhansl“. In dieser Form wurde das Lied bis heute in aller Welt nachgesungen und dient immer noch als Grundlage für Revolutions- und Kampfgesänge, für Umdichtungen oder Parodien. Neben dieser Indienstnahme der Parole für verschiedenste politik- und gesellschaftskritische Anliegen hat sich indes auch eine gleichsam romantische Verwendung des Wortes gehalten, wie etwa in Eichendorffs Gedicht „Verschwiegene Liebe“:

                                               „Über Wipfel und Saaten
                                               In den Glanz hinein -
                                               Wer man sie erraten,
                                               Wer holte sie ein?
                                               Gedanken sich wiegen,
                                               Die Nacht ist verschwiegen,
                                               Gedanken sind frei.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020