Jahr100Wissen

Vor 100 Jahren erschien Hugh Loftings Roman „Dr. Dolittle und seine Tiere“. Ein Interview mit der Germanistin Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon

von Uwe Blass

Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon
Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
„Dr. Dolittle ist für mich der Inbegriff eines
herausragenden Wissenschaftlers“
 
Vor 100 Jahren erschien Hugh Loftings Roman „Dr. Dolittle und seine Tiere“. Ein Interview mit der Germanistin Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon
 


Franz von Assisi konnte angeblich mit ihnen sprechen. Hugh John Lofting hat Geschichten darüber verfaßt. Die Rede ist von sprechenden Tieren. „Doktor Dolittle und seine Tiere“ wurde vor 100 Jahren veröffentlicht. Warum sind diese Geschichten so besonders?
 
Nickel-Bacon: Sprechende Tiere finden wir in einer der ältesten Erzählgattungen, der Fabel nach Äsop. Hier dienen die Tiere als Spiegel der Menschen. Das ist bei Dr. Dolittle nicht so. Die Tiere sind Individuen, auf die er sich als Arzt einläßt, denen er hilft und die ihm ihrerseits beistehen. Während Franz von Assisi nach der Legende die Sprache der Tiere beherrschte, entsteht in den Dr. Dolittle-Bänden eher der Eindruck, daß die Tiere unsere Sprache sprechen. Allerdings wird eingangs betont, daß Dr. Dolittle die Sprache der verschiedenen Tiere aktiv von dem Papagei Polynesia erlernt, so wie wir Fremdsprachen erlernen. Erzählerisch wird das aber kaum eingelöst.
Mit Franz von Assisi verbindet Dr. Dolittle ganz sicher das tiefe Verständnis für Tiere. Auch für Geld hat er wenig Sinn und lebt diesbezüglich in großer Sorglosigkeit. Dr. Dolittle unterscheidet sich aber auch von dem Heiligen, denn er ist ein Kind der Aufklärung. Er betreibt das, was wir heute Schulmedizin nennen. Als viele Affen erkranken, isoliert er die Kranken und impft alle gesunden Tiere – dazu fallen uns in der aktuellen Situation einige Parallelen ein. Dr. med. Dolittle praktiziert also eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin und hat als Naturforscher fundierte Kenntnisse in Biologie und Geographie. Im zweiten Band öffnet er sich aber auch dem naturheilkundlichen Wissen der Indianer. Auf Gebieten, auf denen andere mehr wissen als er, läßt er sich auch bereitwillig belehren. Heilung, so die Botschaft, ist nur ein Sonderfall von Problemlösung. Möglich wird sie durch solides Wissen, aber auch durch einen verständnisvollen Umgang mit allen Lebewesen.
Hugh Lofting hat also eine komplexe Figur erschaffen, die einerseits von einem fast kindlichen Staunen über Naturphänomene geprägt ist, andererseits den wissenschaftlichen Anspruch der genauen Beobachtung hat. Insofern ist Dr. Dolittle für mich der Inbegriff eines herausragenden Wissenschaftlers, der stets offen ist für neue Einsichten und Erkenntnisse.
 
Was macht Dr. Dolittle zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur?
 
Nickel-Bacon: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur zeichnen sich erstens dadurch aus, daß sie von Generation zu Generation weitergegeben werden von Menschen, die diese Bücher für wertvoll erachten, um sie ihren eigenen Kindern und Enkelkindern weiterzugeben. Ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur ist Dr. Dolittle und seine Tiere vor allem im anglo-amerikanischen Raum. Im deutschsprachigen Raum ist es weniger präsent, aber durchaus bekannt.
Ein zweites Kriterium für kinderliterarische Klassiker sind verschiedene mediale Repräsentationsformen. Zu Dr. Dolittle gibt es Zeichentrickfilme und eine Spielfilmserie, aber auch zahlreiche Hörbücher, die dem geschriebenen Text naturgemäß am nächsten kommen. Eine englische Fassung ist im Internet frei zugänglich. Auf Deutsch ist 2019 eine neue Hörfassung zu Dr. Dolittle und seine Tiere von Rufus Beck erschienen. Sie trifft die Intention des Buches besonders gut, weil der Schauspieler es versteht, durch Intonation und dialektale Anklänge den einzelnen Tieren jeweils eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Die alte weise Polynesia, der emsige Affe, aber auch John Dolittle selbst werden für die Zuhörer/innen als Individuen lebendig.
Drittens würde ich noch etwas anführen wollen, was in der Forschung weniger genannt wird, aber eine wichtige Rolle spielt: Spannende Geschichten alleine reichen nicht für den Klassikerstatus. Langlebige Klassiker der Kinderliteratur vermitteln Werte, die erwachsene Bezugspersonen der nächsten Generation ans Herz legen möchten. Auch dies scheint mir zuzutreffen.
 
Kurt Tucholsky sagt in seiner Kritik, die er als Peter Panter 1925 in der Vossischen Zeitung formuliert „in dem ganzen Buch ist kein Witz, aber alles strahlt vor Humor“ und an einer anderen Stelle „so entstand dieses Buch in seiner fast biblischen Einfachheit und Herzlichkeit“. Wie kommt er darauf?
 
Nickel-Bacon: Das hängt mit der Figur John Dolittle zusammen, diesem etwas verschrobenen Einzelgänger, und mit seiner Haltung gegenüber den Tieren. John Dolittle handelt im Geist der Toleranz, aber auch in einem Geist der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Dadurch können sich die einzelnen Tiere völlig frei entfalten und sind dafür ausgesprochen dankbar. Es gibt z. B. das Krokodil, das John Dolittle gerne loswerden möchte. Als das Tier sagt, daß es sich im Zirkus nicht wohlfühlen würde und dicke Krokodilstränen weint, kann er nicht Nein sagen. Auf seiner Afrikareise findet sich dann eine bessere Lösung. Der Humor, den Tucholsky benennt, entsteht aus dem Verständnis, das John Dolittle an den Tag legt. Es führt im Verlauf der Handlung immer zu Problemlösungen, auch wenn es einige Durststrecken gibt. Witzig sind aber auch Dolittles Gegenspieler: ‚selbstherrliche Autokraten‘, wie der König der Jolliginki oder der König der Löwen, der nicht helfen will, dann selbst Hilfe benötigt. Diese Figuren sind satirisch überspitzt gezeichnet und zeugen ebenfalls von Humor.
 
Ein Beitrag im Deutschlandfunk Kultur von 2014 beschäftigt sich mit der Frage: „Wie können Menschen die Sprache der Tiere verstehen?“ An Beispielen von sprechenden Papageien, klugen Hunden, die bis zu 100 Begriffe verstehen oder Delphinexperimenten werden Forschungen vorgestellt, die die Kommunikation zwischen Mensch und Tier verdeutlichen. Aber ist am Ende Sprache nicht doch das Alleinstellungsmerkmal des Menschen?
 
Nickel-Bacon: In Dr. Dolittle ist die sogenannte Sprache der Tiere überwiegend metaphorisch zu verstehen als gelungene Verständigung. Zwar wird berichtet, daß Dr. Dolittle die Sprache der Tiere erlernt, aber lediglich das Schnalzen der Zunge wird als Entensprache dargestellt, was eher dürftig ist. Polynesia erläutert, daß Tiere häufig nicht mit dem Mund, sondern mit allem möglichen Körperteilen sprechen. Die Behauptung, Dr. Dolittle spreche die Sprache der Tiere, weist also eher darauf hin, daß er bereit ist, sich auf jedes Tier einzulassen. Empathie scheint das A und O für seine Verständigung mit den Tieren zu sein und nicht die behauptete Übersetzung der Vogelsprache in Menschensprache. Wenn an manchen Stellen der Eindruck entsteht, jede Tierart spreche eine eigene Sprache, lösen solche behauptenden Einsprengsel niemals die Komplexität des menschlichen Sprachsystems ein. Betont wird vielmehr das Verständnis von Körpersprache, z. B. wenn das scheue Stoß-mich-zieh-mich dem Doktor sofort ansieht, daß es ihm vertrauen kann, oder wenn der Fischerjunge sagt, ‚Du lachst, wie ein Freund‘. Mimisch-gestische Signale werden ernst genommen. In dem Kinderroman geht es hauptsächlich um ein erweitertes Verständnis von Sprache im Sinne von Einfühlungsvermögen.
 
In der Literatur gibt es viele Beispiele sprechender Tiere. Das Dschungelbuch, der Zauberer von OZ, Nils Holgersson, Alice im Wunderland, der kleine Prinz oder die Chroniken von Narnia zählen dazu. Kann man mit dieser Parallel-Realität vielleicht Gesellschaftskritik besser transportieren, indem man Tiere sprechen läßt?
 
Nickel-Bacon: Gesellschaftskritik durch sprechende Tiere hat eine lange Tradition, wie wir an den Fabeln des Äsop sehen können, die menschliche Verhältnisse widerspiegeln. Lessing hat in seiner Fabeltheorie betont, daß hier Tiere Verwendung finden, damit die Leser/innen sich nicht zu sehr einfühlen. In Dr. Dolittle scheint eher das Gegenteil der Fall. Hier wird das sprechende Tier benutzt, um mehr Verständnis für die Tierwelt aufzubringen. Diese Tradition finden wir auch in den Märchen der Brüder Grimm und in der phantastischen Literatur. Märchenhelden, besonders Dummlinge, aber auch kindliche Protagonisten können sich mühelos mit Tieren verständigen. Da reale Tiere nicht sprechen und reale Kinder sich sprachlich nicht mit ihnen verständigen können, kommen nur Gattungen in Frage, in denen das Unmögliche möglich wird. Die Verständigung menschlicher Protagonisten mit sprechenden Tieren kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: einerseits die Funktion des Verständnisses, andererseits gesellschaftskritische Funktion. So zeigt der Blick der Tiere auf menschliche Verhältnisse Ungerechtigkeit, Selbstgefälligkeit und Dummheit, die Menschen aus Gewohnheit (oder aus Angst) einfach hinnehmen. Das scheinbar naive Tier blickt unvoreingenommen auf solche menschlichen Unarten und entlarvt sie.
 
Frau Prof. Nickel-Bacon, Lofting hat diese kleinen Märchen als Brieferzählungen seinen Kindern von der Kriegsfront aus nach Hause geschrieben. Ist das Buch vielleicht auch ein Appell an das menschliche Tierverständnis, das eher gehört wird, wenn es Sprache benutzt?
 
Nickel-Bacon: Die Erfahrung des ersten Weltkriegs, in dem sich ein regelrechtes Völkermorden abspielte, bildet einen wichtigen Hintergrund für diese Kinderromane. Dem 1920 erschienen Band folgt eine Serie, deren einzelne durchaus abenteuerliche Episoden eine durchweg pazifistische Grundhaltung durchzieht. So verbietet Dr. Dolittle dem Piraten Ben Ali, weiterhin Menschen zu töten, und verurteilt ihn dazu, künftig als friedlicher Bauer Vogelfutter anzubauen. Die Todesstrafe lehnt er ab. Das ist für die 1920er Jahre eine ausgesprochen fortschrittliche Einstellung, wenn man bedenkt, daß Lofting in den USA gestorben ist und dort noch immer die Todesstrafe vollstreckt wird. Den kindlichen Adressarten ist die Projektion von Loftings Friedensbotschaft auf das tierische Figural geschuldet, das im Unterschied zu vielen Menschen immer hilfsbereit und solidarisch handelt. Die Sympathie wird in diesen Büchern positiv auf all jene Lebewesen gelenkt, die ihre Fähigkeiten zur Kooperation und Problemlösung einsetzen. Dagegen bezeichnet John Dolittle im zweiten Band Menschen, die glauben, ihre Probleme mit Gewalt lösen zu können, als „Dummköpfe“. Insofern ist die Gemeinschaft von Dr. Dolittle und seinen Lieblingstieren auch ein utopischer Gegenentwurf zur Destruktivität der menschlichen Zivilisation.
 
Uwe Blass
 
Irmgard Nickel-Bacon baute von 2004 bis 2009 die germanistische Literaturdidaktik an der Berg­ischen Universität Wuppertal auf und lehrte hier von 2010 bis 2020 als Universitätsprofessorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur mit dem Schwerpunkt Literaturdidaktik.