Abgesänge

„Und später glitt ich in tausend Träume“

von Frank Becker

Abgesänge
 
Kurze Prosa des Wiener Fin de Siècle
 

Und später, von ihrem Arm umschlungen,
glitt ich in tausend Träume.
(Arthur Schnitzler, „Der Sekundant“)

Walter Gellert hat für diesen erlesenen Band acht Erzählungen des Fin de Siècle aus den Federn von Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler zusammengestellt, die zugleich für eine äußerst ergiebige Epoche der Wiener Kaffeehaus-Literatur und ihren Nachhall stehen. Sein erfreulich knappes, dafür aber punktgenau einführendes Vorwort dazu erweist sich als ein kluger Schlüssel. Es geht in dieser gefühlvoll zusammengestellten kleinen Auswahl, worum auch sonst, um das zeittypisch höchst komplizierte Verhältnis von Mann und Frau in einer von starren Konventionen geprägten Gesellschaft, um Verrat, Verlust und um den Tod. Es gelingt mit diesen acht Erzählungen, die aufgesetzte, zerquälte, ja unter vorgeschobenen Ehrbegriffen verlogene Moral bestimmter gehobener Schichten jener Epoche nachzuzeichnen.
 
Die zementierten Geschlechterrollen der „besseren“ Gesellschaft von Adligen, Offizieren, Staatsbeamten und Herren des Wohlstandes der Donaumonarchie vor dem Dämmern der Wende zum 19. Jahrhundert und dem Zusammenbruch des K.u.K. Systems werden unter dem Sturm leidenschaftlicher Gefühle, dem Hunger nach Freiheit sichtbar brüchig, die erotische Macht der ins gesellschaftliche Korsett gezwängten Damen ist der Sprengstoff, der Denkmäler vom Sockel stürzen kann.
Acht nicht nur sprachlich kostbare Erzählungen voller Drama und Morbidität, von denen Arthur Schnitzlers brillantes Spätwerk „Der Sekundant“ nebst seinen mitreißenden Erzählungen „Ein Abschied“ und „Die Toten schweigen“ das Obers auf dieser delikaten literarischen Mehlspeise sind, geben hohen  Lesegenuß – und öffnen ein Fenster zu einer alten Zeit, die so gut gar nicht war. Schnitzlers  „Der Sekundant“, 1932, ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht, ist nachgerade ein Abgesang, ein Höhepunkt der Prosa der Zeit der aufkommenden Psychoanalyse, die bezeichnenderweise wie die hier versammelten Texte österreichischer Schriftsteller, Rilke nehmen wir als Ausnahme, ebenfalls in Österreich mit Sigmund Freud, Alfred Adler, Otto Gross ihre Wurzeln hat. Den Titel des Buches hat der Herausgeber folgerichtig dieser abschließenden Erzählung mit ihren großartigen Traumsequenzen entnommen.
Von den Musenblättern sehr empfohlen.
 
Walter Gellert, in Wien geboren, war viele Jahre als Kulturjournalist beim Österreichischen Rundfunk (ORF) tätig und gestaltete zahlreiche Berichte und Interviews für Radio und Fernsehen. 2011 veröffentlichte er den Gedichtband »Fern bin ich dir nah«.
 
„Und später glitt ich in tausend Träume“
Ausgewählte Novellen von Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler – Herausgegeben von Walter Gellert
© 2015 Verlag Der Apfel, 159 Seiten, Gebunden - ISBN 978-3-85450-626-3
20,45 € (A)

Weitere Informationen: www.verlagderapfel.at