Der unmögliche Berg

Reinhold Messner – „Torre – Schrei aus Stein“

von Frank Becker

Der unmögliche Berg
 
Die Geschichte des Cerro Torre –
Wahrheit und Legende
 
Vieles, was bergsteigerisch vor 60 Jahren in den Hochgebirgen der Welt unmöglich erschien, ist dank stets weiterentwickelter alpinistischer Technik, besserer Ausrüstung und Kleidung sowie digitaler Wetterbeobachtung heute machbar. Die Eroberung sämtlicher Achttausender der Erde und die Begehung schwierigster Routen zeugen davon. Umso spannender sind Berichte über sensationelle Erstbesteigungen von besonderem Schwierigkeitsgrad, die unter extremen Bedingungen angegangen und bewältigt worden sind. Eine solche alpinistische Meisterleistung war die Erstbesteigung des legendären Cerro Torre in Patagonien, dem südlichen Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile.
 
Der sturmumtoste, in Nebel gehüllte und vereiste Cerro Torre, Patagoniens spektakuläre Felsnadel mit einer Gesamthöhe von ca. 3130 Metern, der nach Ansicht von Kennern wie Bruno Detassis als unmöglich galt, ist vielleicht der schwierigste Berg der Welt, so sehen es jedenfalls Kletter-Kapazitäten wie Walter Bonatti, Reinhols Messner, Ermanno Salvaterra und Toni Ponholzer. Es ist ein „Granitzahn“ dessen bis zu 2000 Metern steil aufragende Granitwände furcht- und repekteinflößend sind.
Im Dezember 1958 gingen Cesare Maestri (*1929), Toni Egger (1926-1959) und Cesarino Fava (1920-2008) den Torre als Prestige-Vorhaben des argentinischen Alpenvereins an, in Konkurrenz zu einer parallelen Unternehmung mit dem K 2-erfahrenen Walter Bonatti (1930-2011). Bonatti und seine Kameraden gaben den Versuch, den Torre an der Südseite zu besteigen als aussichtslos auf. Maestri/Egger hatten die Nordseite „besetzt“ und führten ihr Vorhaben fort. Am 31. Januar 1959 standen Maestri und Egger angeblich auf dem von einem Eispilz gekrönten Torre, doch beim Abstieg stürzte Egger ab, sein Leichnam blieb 12 Jahre verschwunden.
Seit 1959, als der Trentiner Cesare Maestri behauptete, mit seinem Osttiroler Seilgefährten Toni Egger den Gipfel erreicht zu haben, bevor eine Lawine seinen Kameraden in den Tod riß, gibt es nach anfänglicher Hochachtung vor dieser Leistung international immer wieder Spekulationen darüber, was damals wirklich geschehen ist, zumal Stück für Stück Belege dafür auftauchten, daß Maestri und Egger nie höher als 300 Meter in der von ihnen angeblich bezwungenen Nordwand des Torre gelangt sind. Allein die zeitlichen Berechnungen aufgrund der angeblich von Hand eingeschlagenen und eingebohrten Haken lassen die Besteigung 1959 als Fiktion erscheinen. Auch Favas angeblicher Alleinabstieg auf halber Höhe konnte nicht wie beschrieben erfolgt sein. Die Zweifel an der angeblichen Erstbesteigung wurden stärker.
 
Unter dem Druck der alpinistischen Weltgemeinde brach Maestri 1970 erneut nach Patagonien auf, um zu beweisen, daß er den Torre bezwingen kann. Allerdings wählte er eine völlig andere Route als die zuvor behauptete, nämlich die Südostkante – was seine früheren Berichte unglaubhaft macht –, und er beging den alpinistischen Frevel, dazu einen benzingetriebenen Kompressor samt Bohrer einzusetzen, mit dem er in grenzenloser Wut fast 400 Haken in den Granit bohrt. Ein erster Anlauf scheitert, im zweiten Anlauf gelingt die Bezwingung des Südostgrats, die Maestri mit dem Argument, mit der Felskante sei der Berg bezwungen, unterhalb der Eishaube beendet. Von der Bergsteiger-Gemeinde wurde die Leistung zwar gewürdigt, aber als Torre-Besteigung nie anerkannt.
Als 1973 Eggers sterbliche Überreste zudem an einer Stelle gefunden wurden, die nie und nimmer mit den Schilderungen von Maestri und seinem Expeditionsleiter Cesarino Fava übereinstimmen können, war Maestris Reputation zerstört.
 
Reinhold Messner, der den Berg selbst nie bestieg und nach eigenem Bekunden auch nicht den Wunsch dazu hatte, hat für eine Filmdokumentation und für sein detailliert recherchiertes Buch über die Geschichte des Cerro Torre zahlreiche Quellen und Dokumente von Zeitzeugen wie Casimiro Ferrari ausgewertet sowie Bergsteiger wie Ken Wilson, Carlo Mauri, Ermanno Salvaterra, Toni Ponholzer, Jim Bridwell u.a. interviewt, insbesondere solche, die den Torre später geschafft haben.
Er wertet mit Respekt vor den unbestrittenen alpinistischen Leistungen Maestris die in 50 Jahren gewonnenen Erkenntnisse neu aus und belegt in übersichtlichen Kapiteln mit zahlreichen Fotos, daß die angebliche Erstbesteigung 1959 so nicht stattgefunden haben kann, also eine Legende ist. Daß er sich dabei die Feindschaft Maestris und Favas zuzieht, liegt auf der Hand. Daß Maestri dabei die Instinktlosigkeit begeht, Messners Tragödie am Nanga Parbat, als beim Abstieg sein Bruder und Seilkamerad Günther starb, in Frage zu stellen ist eine schlimme, geschmacklose Retourkutsche. Verständlich, daß Messner umso genauer das Torre-Märchen von 1959 zerlegt.
Der Leser erfährt in den letzten Kapiteln, wer mit und nach Walter Bonatti die eigentlichen Helden eines der schwierigsten und schönsten Berge der Welt sind, wer den Torre-Gipfel schließlich über welche Route bezwungen hat und kann verfolgen, wie der Torre Stück für Stück seine Geheimnisse preisgibt - und warum der Tod Toni Eggers wohl nie wirklich aufgeklärt werden wird.
 
Leider fehlen dem 2009 erstmals erschienenen und völlig überarbeiteten Buch ein Orts- und Namens-Index und eine übersichtliche Chronologie der Geschichte des Torre, der Versuche, ihn zu besteigen und der schließlichen Erfolge ab den 1970er Jahren.
 
Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde am 17. September 1944 in Südtirol/Italien geboren. Er hat seit 1969 mehr als hundert Reisen in die Gebirge und Wüsten dieser Erde unternommen. Dabei gelangen ihm viele Erstbegehungen, die Besteigung aller 14 Achttausender und eine Längsdurchquerung Grönlands.
 
Reinhold Messner – „Torre – Schrei aus Stein“
© 2009 / 2020 Malik Verlag / National Geographic, 336 Seiten, Klappenbroschur – ISBN: 978-3-492-40637-6
16,- € [D], 16,50 € [A]