Weltspannung

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch



Weltspannung



    Ich wische die drei winzigen Tropfen Fliegenkot von der Fingerkuppe, einen größeren dicken, und zwei kleinere, die so dünn sind, daß sie gegen die Sonne gehalten fast durchsichtig werden.
     Noch nie hatte ich eine Fliege schwimmen sehen. Diese tat es gewiß nicht freiwillig, sie nahm kein Bad, war irgendwie hineingeraten in das ihr feindliche Element, durch Ermüdung, oder einen Windstoß.
    Mit allen ihren Beinen heftig ausschlagend, bewegte sie sich auf der Oberfläche des Poolwassers. Ihr in der Abendsonne hell aufblitzender, grün metallisch schimmernder Rücken würde sie schnell zur Beute einer der um diese Zeit in kleinen Gruppen in rasantem Tiefflug die Wasserfläche absuchenden Mauersegler machen, wenn sie nicht vorher ertrank. Nach dem Gesetz der Natur mußte ihr Ende bevorstehen. So oder so. Ausweglos.
    Ich kniete mich hin, schob meine rechte Hand in Gegenrichtung zu ihrer Fortbewegung auf ihren Körper zu ins Wasser, und hob das Tier heraus.
   Sie kam auf der Kuppe des Ringfingers zu sitzen. Einen Moment hielt sie, von neuer Bedrohung erfaßt, erstarrt inne, um sich dann heftig zu schütteln, wobei sie ein erstes Kothäufchen unter sich gehen ließ, dem noch zwei weitere, kleinere folgten, was ich nur sehen, auf der Hautoberfläche aber nicht spüren konnte, während sie ihre Vorderbeine gegeneinander und an ihrem Kopf mit wiedererstarkender Vitalität rieb, worauf sie, kurz aufbrummend, sich in die Luft warf, und davonflog.
    Ich hatte eine Todesangst erlebt, und beendet. In einem Ausnahmemoment, in dem die übliche Wahrnehmungsbegrenzung ausgesetzt war, hatte ich in den Abgrund der Welt gesehen, in dem aus zahllosen solcher Geschehnisse, in denen ein Leben sich in todessicherer Bedrohung verfangen hat, die Spannung entsteht, die ihre Ordnung aufrechterhält: der Schrecken auf Gegenseitigkeit, den die Abermilliarden von Lebewesen einander in unablässiger Gleichzeitigkeit zufügen, die in der steten doppelten Furcht leben, keine Nahrung zu finden, oder selbst als Nahrung zu enden.
    In einem Augenblick müßiger Aufmerksamkeit hatte ich die Vorbestimmtheit einer Situation der Lebensbedrohung aussetzen können, auf die mein Blick von eben jenem Leuchtsignal gelenkt worden war, zu dem der auf ihn fallende Sonnenstrahl den Rücken des winzigen Tieres machte, es zur sicheren Beute bestimmend.
    Es gibt keinen einzigen Moment im Sein der Welt, der nicht von der Todesangst unzähliger Lebewesen durchzittert wäre. Ihre Daueranspannung hält die Welt zusammen.
    Der Gang der Welt läßt sich nicht ändern; aber unterbrechen. Das Auge der Aufmerksamkeit kann ihre Gleichgültigkeit aussetzen. Günstigenfalls so lange, daß es zu einem Rettungsgriff reicht.
     Wollte man sich diese Fliege als mit menschlichem Bewußtsein ausgestattet vorstellen, so hätte sie in der Minute, in der meine Aufmerksamkeit ihr galt, die Erfüllung dessen erfahren, was für den Gnostiker die Hoffnung auf den rettenden Eingriff eines Erlösergottes in die demiurgisch verpfuschte Schöpfungsordnung ist. 
    In den Momenten, die als Eintritt eines großen Glückes erfahren werden, das in letzter Minute aus höchster Gefahr befreit, mehr noch denen, in denen die Abwendung einer Gefahr sich ereignet, ohne bemerkt zu werden, sind wir diese Fliege, der das Unwahrscheinlichste geschah, von einem ihrer Welt unzugehörigen Wesen der Not enthoben zu werden, in die sie geraten sein mußte, ohne zu wissen, wie ihr geschah.
    Das Leben ist in jedem seiner eigenen auf die Momente angewiesen, in denen das Unbegreifliche sich ereignet, das es fortdauern läßt.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008