„Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“

Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“ und das biblische Buch „Exodus“ (2. Mose)

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Glanz, der unverlöschlich
aus der Türe des Gesetzes bricht“
 
Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“
und das biblische Buch „Exodus“ (2. Mose)
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Im Jahr 1915 veröffentlichte Franz Kafka die kurze Prosaparabel, die als 'Türhüterlegende' oder '-parabel' zu den populärsten Dichtungen des Autors gehört – viel umrätselt und gewiß nicht endgültig zu deuten wie viele seiner Werke.
 
In einem Artikel „Antikörperchen“ (https://lyrik.antikoerperchen.de/franz-kafka-vor-dem-gesetz) wurde kürzlich eine nützliche Zusammenfassung und Übersicht der gängigsten Interpretationen gegeben, die im Folgenden um einen bisher anscheinend kaum beachteten Aspekt ergänzt werden sollen.
 
Ein auktorialer Erzähler berichtet in bemerkenswert nüchternem Tonfall, ein „Mann vom Lande“ habe um „Eintritt in das Gesetz“ gebeten (offenbar in einen Raum, der nur in der mehrfachen Nennung des „Tores zum Gesetz“ angedeutet ist). Vor diesem Tor ist ein „Türhüter“ postiert, der dem Mann den Eintritt verwehrt. Der Mann scheint eine Chance zum Durchkommen zu wittern, als für einen Moment „der Türhüter beiseite tritt“; der aber lacht nur und sagt:
 
            „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.'  […] Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts vor der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre.“
 
Alle Bitten und Bestechungsversuche können den Türhüter, der offenbar einem transrealen Bereich zugehört, nicht rühren. So kommt der Mann zum Sterben, ohne daß ihn sein lebenslängliches Bemühen dem Gesetz auch nur einen Schritt näher gebracht hätte:
 
            „Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht,ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“.
 
Sterbend erfährt er noch, daß dieser Eingang zum Gesetz nur für ihn bestimmt war.
 
In dem genannten Artikel werden drei „für Kafka typische Interpretationsansätze“ angeführt: autobiografisch, religiös, gesellschaftspolitisch. Im religiösen Ansatz wird fast nur auf eine angebliche „Religionskritik Kafkas“ abgehoben. Entschieden weiter führt ein Rekurs auf die Midraschlegende: „Pesikta Rabbati 20“ - eine Legende, die populär blieb, weil sie zum Abschluß vom jüdischen Jom Kipur-Fest vorgetragen wird: Mose, 'der Mann des Gesetzes', will zu Gott, um sich bei ihm die Gesetzestafeln der Zehn Gebote abzuholen. Ein Ereignis auf dem gefährlichen Weg dorthin scheint Kafka subtil mit seiner Parabel verknüpft zu haben, und zwar mit den Worten des Türhüters, „schon den Anblick des dritten [Wächters] kann nicht einmal ich mehr ertragen“: Einen ersten himmlischer Wächter drängt Mose beiseite, beim dritten Türhüter Sandarfan, vor dem selbst der zweite übermächtige Wächter sich fürchtet, muß Gott eingreifen. In der altjüdischen Legende wie in der Parabel, hat jeweils ein Türhüter Angst vor dem dritten, der unüberwindlich scheint.
 
Gott überreicht dem Mose die Gesetzestafeln, und Mose steigt vom Sinai hinab. Nun mündet die Legende in die aus dem Alten Testament bekannte Geschichte (2. Mose, 19-25 und 31-35).
 
Die Übereinstimmungen der kleinen Parabel mit den gewaltigen Texten ist frappant. Man könnte auch Mose seiner Herkunft nach als einen „Mann vom Lande“ bezeichnen, denn er wurde in der Gegend eines ägyptischen Weidelandes geboren. Bei seinem Versuch zu Gott und der Thora vorzudringen, gerät er wie in der Midraschlegende an mehrere Türhüter. Im Gegensatz zu dem schüchternen Versuch des Mannes vom Lande schiebt er den ersten rigoros beiseite, ist dann allerdings auf Gottes Hilfe angewiesen, von der in der Parabel keine Rede ist. Der Mann gelangt Zeit seines Lebens nicht zu seinem Zweck, während Mose sein Ziel durch eigene Aktivität und göttlichen Beistand erreicht. Als er die Gesetzestafeln zu seinem Volk bringt, heißt es im Buch Exodus (2. Mose 34.29):
 
            „Da nun Mose vom Berge ging, hatte er die Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wußte nicht, daß die Haut seines Angesichts glänzte davon.“
 
Der Mann vom Lande erblickt sterbend „im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ Es kann kein Zweifel sein, daß es derselbe Glanz des Gesetzes ist, der von den Tafeln auf die Haut des Mose fiel. Mag sein, daß sich der Mann in der Kafka-Parabel nicht richtig verhalten hat, weil er für eigene Aktivitäten zu feige war und sich im Gegensatz zum Umgang des Mose mit dem ersten Türhüter in sein Schicksal ergab. Immerhin wird ihm am Ende der Glanz des Gesetzes sichtbar – eine Vision, die ihn unvermittelt mit dem Tod des Mose verbindet. Die Idee zu dieser Verknüpfung könnte Kafka dem jüdischen Prager Dichter Franz Werfel verdanken, der ihm am 2. Dezember 1914 einen Text vorgelesen hatte, in dem sowohl von einem „obersten Türhüter“ wie von „Mardochais Legende“ vom Tod des Mose die Rede ist. Mose hatte nach jahrzehntelangem Mühen und Ringen (man denke allein an den vierzig Jahre währenden Zug durch die Wüste) das von Gott den Patriarchen verheißene Gelobte Land erreicht. Allerdings darf er dessen Herrlichkeit nur sehen, Kanaan aber so wenig betreten wie der Mann vom Land den Raum des Gesetzes (5. Mose 34.1-5):
 
            „Und Mose ging […] auf den Berg Nebo […]. Und der Herr zeigte ihm das ganze Land Gilead bis gen Dan und das ganze Naphthali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer gegen Abend […]. Und der Herr sprach zu ihm: 'Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe […]. Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen. Also starb Mose.“
 
Wie der Mann vom Lande unmittelbar vor seinem Tod den Glanz des Gesetzes erblickt, sieht Mose zuletzt das ersehnte Gelobte Land, ehe er stirbt. Auch er kann es nicht betreten.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020