Jahr100Wissen

Die Rassismusforscherin Arzu Çiçek über Völkerschauen

von Uwe Blass

Arzu Çiçek - Foto: UniService Transfer

Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerinnen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden EReignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
Rassismus als ein Weltordnungsprogramm
der modernen europäischen Kultur
Die Rassismusforscherin Dr. Arzu Çiçek über Völkerschauen
und deren Auswirkungen bis heute
 

Schon die alten Ägypter stellten Menschen, die anders aussahen oder fremd wirkten, öffentlich zur Schau. Im 19. Jahrhundert erlebten diese ´Menschenzoos` unter dem Namen Völkerschau in Europa einen ungeheuren Boom. Was wurde dort gezeigt?
Çiçek:
Auf diese Frage kann sicherlich aus verschiedenen Forschungsrichtungen geantwortet werden. Wenn ich z.B. Historikerin wäre, würde ich vielleicht auf historische Dokumente aus dieser Zeit verweisen und vielleicht davon sprechen, daß es im ehemaligen Deutschen Reich bis zum Ende des ersten Weltkriegs sehr wenig staatlich organisierte Schaustellungen gab. Es gab durchaus einige vom Kolonialamt veranstaltete Schaustellungen, aber die meisten waren von privaten Unternehmen wie z.B. Hagenbeck organisiert. Und diese Veranstaltungen fanden nicht nur in Zoos, sondern in vielen öffentlichen Räumen wie Gasthöfen oder auf Marktplätzen statt. Ich antworte aus der Sicht einer Erziehungswissenschaftlerin und Rassismusforscherin und möchte mit einer Vorbemerkung bzgl. des Begriffes Menschenzoo beginnen. Diesen halte ich in einer ungebrochenen Reproduktion für problematisch und zwar insofern, als daß wir, wenn wir solche Ausdrücke wiederholen, in gewisser Weise auch den kolonialen Blick wiederholen, der in der Phänomenalität dieses Wortes Menschenzoo zu sehen ist. Wenn wir weiterhin durch unsere Sprache Menschen entmenschlichen, versperren wir durch diese Handlungspraxis wiederum uns selbst Perspektiven auf Menschen, Realitäten und Persönlichkeiten. Deshalb würde ich dafür plädieren, das ist meine Vorbemerkung, daß wir andere Ausdrücke suchen, um diese Praxis nicht zugunsten einer von Gewalt gezeichneten Kontinuität fortzusetzen. Aber nun zu der Frage, was dort, in den sogenannten Völkerschauen, gezeigt wurde. Die Frage ist für mich eher, was können wir über das Zeigen solcher Aus- oder Schaustellungen aufzeigen? Das Ausstellen ist hier wichtig. Das Ausstellen, wenn ich es als Erziehungswissenschaftlerin betrachte, ist zunächst einmal eine Praxis, die auf die Bildung der Besucher, die zu diesen Aus- oder Schaustellungen gekommen sind, gezielt hat. Das Ausstellen ist als solches eine Praxis, die an der sozialen und kulturellen Sinnbildung teilhat. Der entscheidende Punkt ist, daß bei jeder Schaustellung, das Ausgestellte nicht einfach nur Objekt ist. Jede Ausstellung ist ein Netzwerk, also ein Zusammenhang von immateriellen und materiellen Akteuren. Denkt man dabei an den Anteil der Künstler, der Kunstvermittler, der Betrachter oder Zuhörer. Aber auch die Ausstellungsräume selbst, die Sockel auf denen präsentiert wird, die Technik der Ausstellung, etwa die Beleuchtung und vieles mehr greift hier ineinander. Man kann das Ausstellen also als ein arrangiertes Gefüge bezeichnen. Im Hinblick auf das Arrangierte solcher Aus- oder Schaustellungen kann man vielleicht eine Gemeinsamkeit zwischen den alten Ägyptern und den Ausstellungen des 19. Jahrhunderts sehen. Aus erziehungswissenschaftlicher und rassismuskritischer Sicht muß man aber, und dies markiert einen Unterschied, sagen, daß das 19. Jahrhundert eine Zeit europäischer Imperien war und die Zeit des Kolonialismus. Wenn wir die Schaustellungen sog. Völkerschauen verstehen wollen, müssen wir sie als arrangierte Gefüge in dieser Entwicklung betrachten. Sie etablieren sich in einer spezifischen, zeitgeschichtlichen Situation. Die Eroberung des globalen Südens, die Ausbeutung der Länder sowie die Versklavung der Menschen wurde schon im 18. Jahrhundert explizit durch Rassentheorien aus der Wissenschaft und der Philosophie legitimiert. Namen wie die des Naturforschers de Buffon oder der Philosophen Kant und Hegel sind da zu nennen. Der Rassismus als eine spezifische europäische Erfindung, in dieser Phase expandierender europäischer Imperien, in der Zeit des Kolonialismus am Anfang der Moderne, hat diese besonderen Schaustellungen bedingt, ermöglicht und erfordert. Wir können diese Schaustellungen vor dem Hintergrund der Erfindung der Menschenrassen und der Legitimierung der Sklaverei als einen Teil einer Verschiebung im Verständnis der europäischen Kultur betrachten. Sie sind Teil einer neuen Erzählung vom Menschen, Teil eines großen Bildungsprojekts. Es sind sowohl die Körper der ausgestellten Menschen, als auch die Körper ihrer Betrachter in diese neue Lehre von den Menschenrassen eingebettet und ihre Sinne werden durch solche Ausstellungen auf eine neue Weise gebildet. Hier findet nicht nur Sprach- sondern auch Sinnbildung statt.


Frauen, Männer und Kinder aus dem Kali'na Stamm im Jardin d'Acclimatation von Paris ausgestellt, 1892 - Quelle: Wikipedia

Die Umstände, unter denen diese Menschen ausgestellt wurden, waren oft entsetzlich. Aus ihren Heimatländern entführt, wurden sie oft in Käfigen präsentiert und starben in der Regel auf diesen Touren durch Kälte und Unterernährung. Waren ethische Bedenken für die Veranstalter der Zeit ein Fremdwort?
Çiçek: Ethische Bedenken waren für die Menschen dieser Zeit sicher kein Fremdwort. Daß aber diese Schaustellungen massenhaft stattfanden, können wir verstehen, wenn wir die bereits etablierten sozialen Praxen dieser Zeit betrachten. Was ist hier bereits etabliert? Die Praxis des Ausstellens selbst, wenn man bedenkt, daß das 19. Jahrhundert auch das Jahrhundert des bürgerlichen Museums als Bildungsinstitution ist. Und die Ausstellungsform von Artefakten korrespondiert auch bereits mit der von Waren in Kaufhäusern oder Dingen auf Messen, nicht zu vergessen die Weltausstellungen, die 1851 beginnen. Das Ausstellen als eine in bestimmte Form gepresste Präsentation war auch Teil eines lukrativen Geschäfts. Der Aspekt der Legitimation der Sklaverei und der Rassentheorie, die den weißen Menschen aufgrund seiner Hautfarbe adelt, ist der Zweck des Rassismus in dieser Stunde der Geschichte.
 
Der Reiz des Unbekannten lockte Millionen Europäer in diese Völkerschauen. Machten diese Veranstaltungen den Rassismus populär?
Çiçek: Daß Millionen Europäer an solchen Schaustellungen teilnahmen, zeigt zumindest schon, daß es ein großes Geschäft war. Unter dem Aspekt der Bildung   muß man neben der Erzählung auch den Blick auf die Bildung bestimmter Körperschemata mit in Betracht ziehen. Die Teilnahme an einer Schaustellung spricht mehr an, als das, was ein Schulbuch in Buchstabenformen anordnen kann. Statt schematischer Ordnungen von Rassen kann man dort lebendige Menschen sehen. Die Teilnahme an einer Schaustellung unterscheidet sich in einer besonderen Hinsicht. Hier kommt die Erfahrung als Spektakel ins Spiel. Die Erfahrung läuft über eine sinnliche Teilnahme und greift als solche viel stärker in eine affektive, psychische Dimension hinein. Hier findet, wie gesagt, Körperbildung statt. Das heißt Völkerschauen   popularisieren den Rassismus nicht nur, das tun sie auch. Sie forcieren ihn noch. Sie statten die sprachliche Ordnung, die Menschheit sei, wie etwa Kant in seinen pädagogischen Schriften definiert, in ihrer größten Vollkommenheit in der weißen Rasse, mit der Kraft eines Affekts und der die Erfahrung begleitenden Emotion aus.
 

Kaiser Wilhelm II. besichtigt 1909 eine Gruppe Äthiopier bei einer Völkerschau im Tierpark Hagenbeck - Quelle: Wikipedia

Das wichtigste bei diesen Schauen war, daß sich die Europäer den fremden Kulturen überlegen fühlten. Ist das nicht auch ein Phänomen, das sich heute in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund beobachten läßt?
Çiçek:  Das Überlegenheitsgefühl ist nur ein Aspekt des Bildungsgeschehens, daß die Gesellschaft der beginnenden Moderne und des 19. Jahrhunderts grundsätzlich verändert hat. Was es in einer sogenannten Völkerschau zu sehen gab, waren weder Völker, noch Kulturen, noch Gesellschaften. Hier wurden lediglich einzelne Menschen als Exemplare, als Beispiel von etwas ausgestellt, wovon nicht sie selbst sprechen, sondern die Erzählungen von Menschenrassen. Menschen werden auf der Bühne oder in Käfigen präsentiert und in eine ganz andere Sprache und Kultur eingebettet. Sie werden in Formen präsentiert, die wenig oder gar nichts mit dem zu tun haben, wie sie ihr Leben zuvor gelebt haben. Es geht nicht darum, was ausgestellt wird, sondern es geht darum, in die Erfahrung und das Gedächtnis der Betrachter eine rassistische Ordnung oder Hierarchie der neuen Weltordnung einzuschreiben, die sich zunächst an der Hautfarbe entlang ausbuchstabiert. Und in diesem Zusammenhang wird stets auch die vermeintliche Vollkommenheit der weißen Hautfarbe hervorgehoben. Vollkommenheit vermittelt selbstverständlich auch ein Überlegenheitsgefühl. Es geht aber im Kern um die Herstellung von Fremdheit und um die Herstellung eines gewissen Umgangs mit dem sogenannten Fremden. In Bezug auf sogenannte Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund kann man aufzeigen, daß auch diese immer wieder auf eine bestimmte Weise präsentiert werden. Ich denke dabei an Presse, Fernsehen, Internet. Wie schnell werden Menschen einem Label, etwa des Migrant-Seins, zugeordnet, in Formen gepresst, die nicht nur stereotyp sind. Heute gibt es eine mächtige, um es mit Adorno zu sagen ´Kulturindustrie` dafür. Hier werden Menschen mit dunkler Hautfarbe beispielsweise gezielt sexualisiert, kriminalisiert oder dämonisiert. Und darauf verweist die Rassismusforschung schon seit langem.
 
Auch für Wuppertal gibt es so ein trauriges Beispiel. Bei der Völkerschau 1885 sollte die schon tuberkulosekranke Aborigine mit dem ihr verliehenen Namen Sussy Dakaro als „Bumerang werfende Kannibalin“ im Wuppertaler Zoo auftreten. Doch die 17jährige war zu schwach und starb in Sonnborn. Der Bürgerverein weihte 2017 eine Gedenktafel auf ihrem Grab, das man noch ausfindig machen konnte, ein. Wann endeten diese Ausstellungen?
Çiçek:  ´Die Bumerang werfende Kannibalin` bestätigt erst einmal das, was ich bereits gesagt habe. Aus meiner Perspektive gibt es bis heute kein Ende solcher Schaustellungen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ja unsere technische Kultur sehr verändert. Wie die Malerei durch die Fotografie abgelöst wurde, ist die Schaubühne heute längst das Fernsehen und das mediale Angebot im Internet. Wenn man hinschaut, dann sieht man einiges. Rassismus wird in der Werbung reproduziert, vor wenigen Wochen in einem VW-Spot, oder im Sonntagabend-Krimi. Aber auch in Schulbüchern, politischen Reden usw. werden rassistische Stereotype reproduziert. Oder die Unterhaltungsindustrie: das Phantasialand in Brühl, da kann man bei einem Familienausflug bestimmte Länder besuchen wie z.B. die Abteilung China und sich hier die Tänzerinnen betrachten. Das ist also weiterhin ein rentables Spektakel bei dem es nicht darauf ankommt, ob die Tänzerin tatsächlich aus China kommt und ob dort alle auf diese Weise tanzen, sondern es geht um die fortgesetzte Herstellung überkommener Homogenitätsphantasien und das Bedienen solcher Ideen.
 

Sioux-Indianershow im Zirkus Sarrasani in Dresden 1928 National Archives Kansas - Quelle: Wikipedia

Wie wirkt sich Rassismus heute in unserer Gesellschaft noch aus?
Çiçek:  Es geht in der rassistischen Ordnung der Welt, der Umgangsweise mit Menschen und ihrer Wertschätzung im Allgemeinen um die Herstellung einer Hierarchie. Und so wirkt sich Rassismus auch heute aus. Nicht nur in kultureller oder moralischer Hinsicht, sondern vor allem auch in materieller Hinsicht profitieren auch heute noch bestimmte Menschen von rassistischen Ordnungen, während andere immer wieder durch erneuerbare Erfahrungen körperlich, geistig, seelisch verletzt, beschädigt oder sogar ermordet werden. Die Bilder von George Floyds Ermordung, die uns immer noch beschäftigen, und die viele Menschen nicht vergessen können, sind nur ein Ereignis, vieler schlimmer Ereignisse, die sich jeden Tag überall auf unserem Planeten aufgrund dessen ereignen, weil Rassismus heute noch immer nicht zur Vergangenheit unserer Welt gehört. Rassismus ereignet sich in unseren Bildungsinstitutionen, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, an den Grenzen und im Namen der Europäischen Union, wenn sie etwa an die Lager denken, in denen wir geflüchtete Menschen einsperren. Rassismus ereignet sich auch in Diskursen z.B. über Zuwanderung oder auch im sozialwissenschaftlichen Alltag, nämlich in Form eines längst lesbar gemachten methodologischen Nationalismus. Rassismus ist ein Weltordnungsprogramm der modernen europäischen Kultur. Lange Zeit wurde er entweder der Vergangenheit zugeschrieben oder dem Schauplatz von Neonazis. Rassismus ist aber ein Teil unserer Alltagskultur und dort nicht nur im politisch rechten Milieu etabliert. Mit seinem Erbe werden wir uns noch lange beschäftigen, um zu verstehen, was Rassismus ist und wie er funktioniert.
 
Uwe Blass
 
Dr. Arzu Çiçek studierte Germanistik und Soziologie auf Lehramt in Paderborn und Wuppertal. Seit 2016 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspädagogik, Alterität und Rassismuskritik.
 

Anm. d. Red.: Im Jahr 1897 beschreibt und kritisiert der österreichische Dichter und Bohemien Peter Altenberg in seinem Buch „Ashantee“ (S. Fischer) die im Jahr 1896 in Wien gezeigte Völkerschau gleichen Namens und deren entwürdigende Umstände. Er besucht die zur Schau gestellten, aus Westafrika (dem heutigen Ghana) kommenden Aschanti regelmäßig, verliebt sich in eines der  jungen Mädchen und geht eine Liebesbeziehung mit ihr ein.