Neues Leben oder Die Verwirklichung der Menschheit

Die Welt nach Corona

von Andreas Steffens

Andreas Steffens - Krzysztof Juretko pinx.
Neues Leben
oder
Die Verwirklichung der Menschheit
 
Die Welt nach Corona
 
Von Andreas Steffens
 
 
Sie wird dieselbe geblieben sein, obwohl das Weltereignis, zu dem die beispiellose Reaktion auf die Pandemie wurde, offenbarte, daß sie anders werden muß.  Das neue Leben wird noch lange das alte sein. Seine Ordnungen werden sich von den bisherigen nicht grundsätzlich unterscheiden. Der große Aufbruch in eine neue Zeit, die die alten, längst bekannten Irrtümer endlich hinter sich ließe und die Versäumnisse behöbe, wird ausbleiben. Dazu sind das Beharrungsvermögen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und die Sehnsucht nach Rückkehr ins Vertraute zu groß.
 
     Denn die sie bevölkernden Menschen blieben, die sie waren, als die Krise ausbrach. Und werden es auf dieselbe Art weiter sein, in der sie es vorher waren. Mögen deren Folgen ihre Lebensumstände auch noch so sehr verändert haben. So viele auch von Arbeitslosigkeit, überstandener Erkrankung oder Verlust von Angehörigen betroffen waren, sie werden eine Minderheit sein. Keine Gesellschaft aber läßt sich zu einschneidenden Veränderungen bewegen, die nicht ihre Mehrheit betreffen, außer durch offene Gewalt. Am allerwenigsten, wenn die alle ausnahmslos bedrohende Gesundheitsgefährdung nicht mehr besteht, die den Ausnahmezustand erzwang und hinnehmen ließ. Jeder beabsichtigte politische Eingriff in die wiederhergestellte Normalität, sei er auch noch so sinnvoll, aber wird dessen traumatische Erinnerung wecken, und massiven Widerstand auslösen. Lediglich die Verwerfungen, die das Virus in der Ökonomie erzeugte, werden zwar mit Murren, aber als unumgänglich akzeptiert werden, wie die Ökonomie seit Jahrzehnten als Schicksal anerkannt ist. Die von der Pandemie am heftigsten Geschädigten aber gehören zum Kreis derer, die bereits zu den Verlierern der Ordnung gehören, die deren Existenzen schon lange nicht mehr als ›systemrelevant‹ behandelt. Auch sie wird die Mehrheit als ›Kollateralschäden‹ hinnehmen.
 
     Die Zeit nach dem Ende der Einschränkungen wird eine des exzessiven Genusses des Wiedergewonnenen so sehr sein, daß man sich noch lange danach auch geringsten Änderungen vehement verweigern wird. Mit großer Intensität wird mit der Krise selbst deren wichtigste Lehre verdrängt werden: daß die Welt, die von ihr betroffen war, nicht bleiben kann, wie sie bis dahin war, soll die Erde Ort des Menschseins bleiben können. Die Pandemie hat den Zustand der Welt als längst elementar krisenhaft schockartig offenbart. Sie hat zum weltweiten Erlebnis aller gemacht, was bisher nur partielles Wissen und unmittelbare Erfahrung weniger war.
 
     Die Welt, in der wir leben, ist nicht die, für die wir sie inmitten der Selbstverständlichkeiten der Zivilisation halten, mit der wir sie überzogen haben. Weil sie ist, wie sie ist, erlebten wir, was wir noch lange verdrängen, und darum alles beim neu gewonnenen Alten belassen werden, obwohl uns das unerhörte Ereignis doch aus dessen Mitte heraus überfiel. Sein Einbruch ließ die Abhängigkeit unseres Daseins von einer jenseits unserer Verfügbarkeiten wirkenden Seinsordnung der Welt, deren integraler Teil wir sind, erfahren, woran das ökologische Bewußtsein seit Jahrzehnten ebenso nachdrücklich wie erfolglos erinnert. Inmitten unserer Daseinssouveränität sehen wir uns einer Überwältigung durch das Unverfügbare ausgesetzt, die elementare Bedingung des Menschenlebens seit seinen Anfängen geblieben ist. Mit den Viren, die uns befallen, holt die Urzeit, aus der sie stammen, uns ein.
 
In der Epidemie stoßen Natur und Kultur frontal aufeinander. So, wie wir in Natur eingreifen, beschädigen wir unsere eigene Eingebundenheit in sie. Die Gattung geht mit ihren natürlichen Daseinsbedingungen so gleichgültig und rücksichtslos um, wie die Unbelehrbaren, die Schutzvorkehrungen mißachten. Gewohnheiten der Lebensführung werden verteidigt, obwohl sie sich zu Lebensgefährdungen entwickeln. Weil wir wollen können, nicht zu sein, können wir unseren Lebenswillen als Lebensgefährdung behaupten.
 
     Der zivilisatorische Apparat, der gegen die Pandemie in einer Mischung aus Panik und Rationalität aufgeboten wird, ist zugleich die Organisation ihrer tieferen Ursache: des falschen Verhältnisses zur Welt, die dem Leben die Bedingungen seiner Möglichkeit in ihr auferlegt. Ihr zivilisatorischer Gebrauch, der längst zu einem ›Krieg gegen die Welt‹ geworden ist (Michel Serres), zerstört das Bedingungsgefüge des Lebens, dessen Teil wir sind. Gegenüber der Welt verhält der Mensch sich wie das Virus, das seinen Organismus befällt: er zerstört sie, indem er in ihr lebt.
 
     Der Mensch ist das suizidale Wesen auf Umwegen. Es tötet sich nicht, sondern sorgt dafür, nicht leben zu können, indem es schleichender Zerstörung unterwirft, was ihm zu leben ermöglicht.
 
     Statt aus der dramatischen Erfahrung die Konsequenzen zu ziehen, die sie nahelegt, steht der Welt nach Corona eine lange Zeit des beschleunigten Zerfalls ihrer bisherigen menschengemachten Ordnungen bevor. Die während des globalen Ausnahmezustandes aufgebrochenen Feindseligkeiten werden nicht beruhigt, sondern forciert werden. Im persönlichen und wirtschaftlichen Verhalten ebenso wie in den internationalen Beziehungen. Das gesellschaftliche Verhalten wird zunehmend vom Gerangel um Vorteile und Statussicherung beherrscht sein, und dem lange schon stattfindenden Krieg von Reich gegen Arm neue Dynamik verleihen, der mit der Angst ums Überleben in jeder Hinsicht die Instinkte der Rücksichtslosigkeit mobilisiert. Die Beschleunigung der ökonomischen Konflikte wird den Zerfall der internationalen Beziehungen vorantreiben. Im Verhältnis der Nationen zueinander werden Allianzen der Stärkeren gegen die Schwächeren die Ansätze zu globaler Kooperation verdrängen.
 
     Die prompte Kriegsrhetorik während der akuten Krise deutet voraus auf eine bevorstehende Zeit des Welt-Vor-Krieges, in der die bisher latente Auseinandersetzung um die Hegemonie und Bestimmung der Weltpolitik zu offenen Konflikten drängt. Ähnlich der Lage zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende, als die europäischen Nationen begierig darauf waren, ihre kolonialistisch angereicherte Macht zur Entscheidung darüber zu messen, welche die Welt beherrschen solle, werden Rußland, China und die USA nach einer Entscheidung über ihre globale Vormacht streben.
 
     Die Kontrahenten sind dazu längst in Stellung gegangen. Rußland hat seine Atomwaffen modernisiert, sich im Nahen Osten als militärische Ordnungsmacht festgesetzt, und mit der Besetzung der Krim und der Unterminierung der Ostukraine mit der Rückgewinnung der verlorenen Gebiete des Stalin-Reiches begonnen; China hat seine stille Unterwanderung der europäischen Ökonomie bis zur Übernahme eines Großteils der mittelständischen Strukturen ausgebaut und sich die Verfügung über die Rohstoffe Afrikas gesichert; die USA lassen alle politische Strategie fahren und spitzen den globalen Handelskrieg zur Durchsetzung ihrer alleinigen Interessen zu.
 
     Durch das Erstarken des Antidemokratismus und die Einrichtung tendentiell diktatorischer autoritärer Regime in Mittel- und Osteuropa bereits geschwächt, wird die europäische Einheit durch die ökonomischen Verwerfungen der Corona-Krise weiter untergraben. Die Schwächung des Westens und seiner liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung wird durch den amerikanischen Bürgerkrieg weiter beschleunigt werden, in den die Präsidentschaft Trumps mündet, der die USA als Akteur im Kräftemessen der Weltmächte so empfindlich schwächt, daß die Bereitschaft der folgenden Administrationen zu einem globalen Krieg um die Rückgewinnung der amerikanischen Hegemonie sprunghaft steigen wird.
 
     Die innergesellschaftlichen kulturellen Konflikte aufgrund der durch die sich ausweitenden regionalen Stellvertreterkriege neu einsetzenden Migrationsbewegungen, der Konfrontation der säkularen Indifferenz der liberaldemokratischen Gesellschaften mit der gewaltsamen Politisierung der Religion im Islamismus und der Zuspitzung der Konfrontation von Reich und Arm werden die politische Ordnung Europas in die nationale Konkurrenz autoritärer Regime zerfallen lassen.
 
     Die wichtigste Lehre der Corona-Pandemie vor allen anderen aber, die jedoch die geringste Wirkung haben wird, ist die von ihr unübersehbar gemachte Tatsache, daß die Globalisierung abgeschlossen ist. Die Menschheit lebt künftig tatsächlich in einer einzigen weltumspannenden Zivilisation. Niemand kann dem, was nun jederzeit überall auf der Welt möglich ist, mehr entgehen. Nichts bleibt mehr auf den Ort seines Geschehens beschränkt. Es gibt keine Orte unberührbarer Zufluchten, kein Anderswo mehr. Utopien und Exile sind nicht mehr möglich. Die Pandemie ist der Beweis, daß die Globalisierung stattgefunden hat, und alle Lebensbereiche durchdrungen.
 
     Zwischen dem Tod an Covid 19 in Wuhan, Moskau, New York, Toronto, Berlin, Paris, Sao Paulo, Singapur, Hanoi, Nairobi oder Pretoria ist kein Unterschied. Die Kostbarkeit des Lebens wurde in seiner weltumspannenden, ausnahmslos tödlichen Bedrohung zu einer kollektiven Erfahrung. In ihr ist die Möglichkeit eines neuen, weltumspannenden Konzeptes des Lebens der Menschheit angelegt. Es zu entwickeln, ist die Herausforderung einer Intelligenz, deren eigene Globalisierung noch aussteht. Deren Aufgabe wird die Durchdringung der Gesellschaften mit einem ›Weltgeist‹ zur Kultivierung der Zivilisation in deren Zurückführung auf ihren elementaren Sinn der Lebensermöglichung und Daseinssicherung sein. In der europäischen Aufklärung zu einer Idee gebildet, wird die ›Menschheit‹ durch die gleichzeitige Erfahrung derselben Gefährdung, wie eine Pandemie eine ist, zur Wirklichkeit. Indem von jedem Menschen, gleich, an welchem Ort der Welt er lebt, dieselbe Bedrohung seines Lebens erfahren wird, gleich welche Hautfarbe, Rasse, Kultur, gesellschaftliche Stellung er besitzt, wird eine Weltpolitik möglich, in deren Zentrum die Gewährleistung des Menschenlebens steht. Nun nicht mehr als Katastrophenmanagement eines temporären Ausnahmezustandes, sondern als permanente Aufgabe.
 
     Daß es eine solche globale Politik des Überlebens geben muß, hat die Selbstgefährdung durch eine ökonomisch beherrschte Zivilisation der Ausbeutung von Mensch und Natur längst bewiesen, deren Verhältnisse die Pandemie ermöglichten. Sie hat drastisch demonstriert, daß unsere so lange selbstverständlich gewesene, durch alle Krisen, Schwierigkeiten und Belastungen hindurch als selbstverständlich hingenommenen Lebensordnungen Ordnungen der Selbstgefährdung des Menschenlebens sind, indem sie dauerhaft gegen die Bedingungen des Lebens auf der Erde überhaupt und die Gesetze verstoßen, die alle seiner Erscheinungsformen miteinander im Geflecht des Seins verbinden.
 
     Die Pandemie hat unsere Zivilisation als Selbstgefährdung der Menschheit offenbart. Im Zentrum ihrer Bewältigung, den medizinischen Einrichtungen, zeigte sich die tödliche Tendenz einer Ökonomie, die alle Lebensbereiche dem einen und einzigen Wert der Erzeugung von Reichtum unterwirft. Die Bereitschaft, auf die  mangelhafte Notfallausstattung der Kliniken in materieller wie personeller Hinsicht mit Konzepten einer stillschweigenden Selektion zu reagieren, die zwischen überflüssigem, entbehrlichem und bewahrenswertem Leben unterscheidet, signalisiert den dramatisch fortgeschrittenen Stand der Erosion des humanen Bewußtseins. Dagegen wird es darauf ankommen, die Unbewertbarkeit des Lebens, jedes Lebens, zur zentralen Idee einer kulturell gebändigten Zivilisation zu erheben.
 
     Die Kombination aus neoliberalem Raubkapitalismus und chinesischem Staatskapitalismus treibt mit ihrer global potenzierten Gleichgültigkeit gegenüber den elementaren natürlichen und kulturellen Bedingungen des menschlichen Daseins in der Welt die menschliche Fähigkeit der Selbstzerstörung, die es von allen anderen Lebensformen unterscheidet, einem Höhepunkt entgegen. Die Pandemie zeigt drastisch, daß der Ausstieg des Menschen aus der natürlichen Weltordnung, den er mit der nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des sowjetischen Systems entstandenen neuen ökonomischen Weltordnung exponentiell beschleunigt betrieben hat, nichts anderes ist, als ein weltgeschichtlicher Akt der Selbstverleugnung der Menschheit.
 
     Die Zeit der akuten Corona-Krise aber war auch eine Zeit der Empathie, der Solidarität und gemeinschaftlichen Vernunft. Sie hat gezeigt, daß die antihumanen Mechanismen der Weltzivilisation überwindbar, und die dazu erforderlichen Gegenkräfte vorhanden und mobilisierbar sind. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben ist nicht wesentlich, sondern systemisch: das aber heißt, sie kann überwunden werden. An die Stelle der Systemrelevanz des Einzellebens, dessen Wert von dem globalen Unwert des ökonomischen Interesses brutal mißachtet wird, tritt der Maßstab des Lebenswertes der Daseinsordnungen.
 
     Diese für das Überleben der Menschheit unbedingt erforderliche Umbesetzung in der Hierarchie der Werte ermöglicht ein erneuertes Bewußtsein der Kostbarkeit des Lebens. Dessen Kerngehalt ist die Erinnerung an den elementaren Sinn von Zivilisation und Kultur, vorbereitete Lebensmöglichkeit zu gewährleisten. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht einfach nur leben kann, sondern seine Lebensmöglichkeit unablässig erfinden muß.
 
     Welche sind die Bedingungen einer diesem Ursinn des Daseins entsprechenden Praxis? Wie lassen sie sich in der einen Welt gewährleiten, in der nichts mehr geschieht, was nicht gleichzeitig und auf gleiche Art an jedem Ort der Welt geschehen kann? In der alles überall wirkt? So lauten die Leitfragen einer künftigen Weltkulturpolitik.
 
     Daß es sie auch geben wird aber, ist ungewiß. Möglich, aber unwahrscheinlich. Zwar geschieht nichts, ohne daß es vorher gedacht worden wäre; aber nicht alles, was denkbar ist, geschieht auch. Nicht nur hat sich immer wieder erwiesen, daß aus Geschichte nur gelernt werden kann, nichts aus ihr zu lernen. Die lange in sie gesetzte Hoffnung, sie werde sich als ›Lehrmeisterin des Lebens‹ erweisen, wurde enttäuscht. Hundert Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelte Immanuel Kant das Konzept der Weltvereinigung der Nationen in einem ›Ewigen Frieden‹. Es folgte eine bis heute andauernde Periode ewigen Krieges.
 
     Daß Daseinsvorsorge und Lebenssicherung Maxime einer künftigen Weltpolitik werden könnten, das Handeln der Regierungen und Verwaltungen bestimmen, statt nur die Debatten von Philosophen und Intellektuellen, setzt die Neuerfindung von Gesellschaft in der Wiederherstellung ihrer Souveränität durch die Unterwerfung der ökonomischen Interessen unter das eine und alleinige Interesse voraus, das alle Menschen jenseits ihrer Unterschiede eint: leben zu können. Erst mit der Beendigung der informellen Diktatur der ökonomischen Interessen, deren Herrschaft die Erde verwüstet, wird die Menschheit zum Souverän ihrer Daseinsbedingungen. Sie wird in dem Moment zur Wirklichkeit, in dem es keine Politik mehr geben kann, für die das Leben kein unantastbarer Zweck, sondern ein Mittel ist.
 
 
© 2020 Andreas Steffens