Von Vokalharmonien und Gleitkonsonanten

Zu scheinbaren Sonderbarkeiten in der Entwicklung der deutschen Sprache

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Von Vokalharmonien und Gleitkonsonanten
 
Zu scheinbaren Sonderbarkeiten
in der Entwicklung der deutschen Sprache
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Ausländer, die Deutsch lernen, Eltern, die den Deutschunterricht ihrer Kinder verfolgen, Studierende der Germanistik, eines Faches, in dem in der Regel nicht mehr systematisch Sprachgeschichte vermittelt wird – sie alle fragen zuweilen erstaunt und ratlos nach scheinbar unlogischen Wortbildungen und hören oft als Antwort, das seien eben nicht weiter erklärbare Unregelmäßigkeiten. Wenn man den Verlauf und die Gesetze einer Sprachentwicklung betrachtet und richtig analysiert, gibt es aber überhaupt keine Unregelmäßigkeiten (auch die oft so genannten 'unregelmäßigen' Verben folgen stets genau bestimmbaren Ablautregeln und sollten zutreffend als 'starke' Verben bezeichnet werden).
 
Daß auch die nur scheinbar sinnlose Umlautung der Vokale „a“, „o“ und „u“ zu „ä“, „ö“ und „ü“ (das vom Substantiv „Angst“ abgeleitete Adjektiv heißt zum Beispiel nicht „angstlich“ sondern „ängstlich“) genau bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen und keinesfalls als Unregelmäßigkeit definiert werden können, sei im Folgenden zu erklären versucht.
 
Man ist „gefangen“ und sitzt im „Gefängnis“, man hat „Macht“ und ist „mächtig“, der „Flame“ spricht „flämisch“, jemand ist „zart“ und „zärtlich“; man „gelobt“ etwas im „Gelöbnis“, ein „Ton“ kann „eintönig“ klingen, ein Verordnung aus  „Rom“ ist „römisch“, man ist „froh“ und „fröhlich“; man hat „gestanden“ mit einem „Geständnis“; man hat einen “Mund“ und ist „mündig“, ein „Hund“ benimmt sich „hündisch“, manche „Kunst“ ist nur „künstlich“. Jedes der hier angeführten Beispielwörter hat in der Stammsilbe ein „a“, ein „o“ oder ein „u“, jede Endung („nis“, „ig“ und „isch“) ein „i“.
 
Sprachen tendieren in der Regel zu Vereinfachungen, vor allem was ihren mündlichen Gebrauch betrifft, der eventuelle Veränderung der Lautung früher als die Schrift und die Grammatiken realisiert. Eine Tendenz ist eine Art von Bequemlichkeit, wie man sie etwa besonders deutlich im Vergleich des gesprochenen Amerikanisch mit der englischen Ausgangssprache beobachten kann. Mir ist das einmal besonders eindrücklich in einem Gespräch auf einem US-Flughafen deutlich geworden, als mich andere Fluggäste fragten, wohin meine Reise gehen sollte. Ich wollte zunächst in deutscher Aussprache „Atlanta“ sagen, besann mich aber, daß man hier wohl eher die englische Aussprache erwarte, und sagte „Ætlænte“, wurde indes erst nach einigen Verdeutlichungsversuchen verstanden und belehrt, das hieße in den Südstaaten „Alána“. Der Bequemlichkeit dieser Aussprache waren also gleich vier Laute geopfert worden. Damit war das Wort nicht nur fast um die Hälfte verkürzt, sondern die jetzige Lautung machte es der Zunge bei ihrer Artikulationsarbeit erkennbar leicht: Sie hat nur noch zwei stimmhafte Konsonanten zu bilden und muß sich nicht mehr für zwei stimmlose Tenues „t“ besonders anstrengen – die Laute gleiten nun förmlich und zeigen keinerlei Stockungen, wie sie die Aussprache von „At-lan-ta“ unweigerlich erfordert.
 
Alle Sprachen tendieren in verschiedenen Epochen unterschiedlich stark zu solchen Ausspracheerleichterungen. So sind die hier zunächst angeführten Beispiele für den Wechsel von „u“ zu „ü“ usw. erst im Frühneuhochdeutschen durchgängig schriftlich belegt, so daß ihre Durchsetzung in der Zeit des gesprochenen Mittelhochdeutsch anzusetzen ist. Zuvor gab es ein Worte wie „rund“ oder „Sand“ mit den Stammvokalen „u“ und „a“; als aus Adjektiv und Substantiv sehr viel später „rund-lich“ oder „sand-ig“ abgeleitet wurden, nahmen dank zunehmend weiterer Verbreitung der Schriftsprache auch in der gesprochenen Sprache die früheren Tendenzen zu Vokalveränderungen in den Stammsilben wieder ab. In der Schriftsprache wurden die Stammvokale nicht mehr verändert; das erleichtert die korrekte Sinnerfassung eines Wortes und ist zugleich eine große Erleichterung beim Erlernen der deutschen Sprache.
 
Wie kann man denn nun die Ausspracheerleichterung in der Zeit von etwa 950 bis 1500 bei den angeführten Beispielen mit den „i“-Anfügungen erklären? Die Grundlage für des Rätsels Lösung entwickelte der Arzt Friedrich Hellwag im Jahr 1781 mit Darstellung des sogenannten Vokaldreiecks. Dazu entwarf er eine Skizze:
 
                                   i                                                          u                                                   
 
                                               e                                  o
 
                                                                a
 
Hellwags Skizze zeigt die Position der Zunge(nspitze) bei der Artikulation der fünf Vokale, die sich bei den 'hellen' Lauten im vorderen Mundbereich von der unteren (flachen) Stellung bei der Artikulation des „a“ zunächst zum „e“, sodann zum „i“ nach oben bewegt; in hinteren Mundbereich sind die Bewegungen der Zunge weniger ausgeprägt, aber doch lokalisierbar, wenn leicht ansteigend „o“ und „u“ gebildet werden. Am wenigsten muß die Zunge dazu tun, wenn sie bei geöffneten Lippen das „a“ artikuliert: Sie liegt sozusagen unbewegt. Daher nennt man das „a“ auch etwas makaber den „Kadaverlaut“, weil der letzte Laut, den gegebenenfalls der Sterbende von sich gibt, wie ein „a“ klingt.  
 
Was nun die Aufhellung der Vokale vor einem auf die Stammsilbe folgenden „i“ betrifft, so kann man sie als Ausdruck einer gewissen Bequemlichkeit werten. Einfach gesagt ist die Zunge auf Dauer zu faul, vom tiefliegenden „a“ zum hochliegenden „i“ aufzusteigen. Also zieht der einer mündlichen Wortartikulation unmittelbar vorausliegende Reflex unbewußt den Basisvokal zur Verkürzung des Abstands zwischen „a“ und „i“ sozusagen höher zu sich heran; durch diese Aufhellung gelangt das ursprüngliche „a“  - auf halbem Wege -  bis zur „e“-Artikulation (in der Regel ae, später  „ä“ geschrieben), und in dem aus „Name“ abgeleiteten „nam-lich“ wurde „näm-lich“. Die Vokalharmonie ist also als (teilweise) Vokalangleichung zu werten. Vergleichbare Grundstrukturen von Lautveränderungen lassen sich natürlich in vielen weiteren Fällen aufzeigen; hier soll es bei dem Beispiel  „a“ vor „i“ zu „e“ bleiben.
 
Ein anderes viel umrätseltes Problem findet sich im Bereich des Konsonantismus und dessen  Entwicklung innerhalb einzelner Wortverbindungen. Es geht dabei um sogenannte „Gleitkonsonanten“, die irgendwann im Laufe der Sprachgeschichte zur Ausspracheerleichterung zwischen zwei Konsonanten eingefügt sind und die daher für die eigentliche Wortbedeutung überhaupt keine Rolle spielen.
 
Schon im Althochdeutschen entstehen durch Ableitung vor allem von Verben sogenannte ti-Abstrakta. An den Wortstamm „kun“ (zum Verb „können“ gehörig) tritt die Endsilbe „ti“ > „kun-ti“ (das Gekonnte). Im mündlichen Sprachgebrauch schiebt sich allmählich ein „s“ zwischen die Wortteile. Die Zungenspitze muß bei der Artikulation nun nicht mehr von „n“ nach „t“ wandern, sondern sie wählte den kürzeren Weg, indem sie vom hinter den Alveolaren gebildeten Laut „n“, nur jeweils wenig rückwärts gleitend, zur Artikulation erst des eingefügten „s“ und sodann von dort aus leicht zum „t“ gelangt. So wird in der Aussprachegewohnheit allmählich bei Wegfall des abschließenden Vokals „i“ aus „kun-ti“ das dann in die Schriftsprache übernommene Wort „Kunst“ - diese Wortentwicklung sollte auch gegenwärtig bedacht werden: „Kunst“ kommt von „Können“ (und nicht von „Wollen“ sonst hieße es heute „Wulst“). Das eingefügte „s“ hat also weder eine gammatikalische noch eine bedeutungsnuancierende Funktion. So begegnet auch in anderen auf „n“ endenden Worten gegebenenfalls stets als Gleitkonsonsant ein „s“ (etwa in den Substantiven „Gun-s-t“, das von „gönnen“ abgeleitet ist, oder „Geburt-s-tag“, wo das „s“ - im Gegensatz zu „Namen-s-tag“ -  keineswegs als Genitivendung anzusehen ist).
 
Die Einfügung eines „f“ zur Ausspracheerleichterung (nach dem eben skizzierten Muster) findet sich in Neubildungen von Wörtern, deren Stammsilbe ursprünglich mit „m“ endete: Nebeneinander stehen dann „vernehm-en“ und „Vernum-f-ti“, „komm-en“ und „(An)-Kum-f-ti“ usw.  Die Sache wird verunklärt, weil sich in vielen Wörtern das ursprünglich auslautende „m“ zu einem „n“ abgeschwächt hat; „n“ ist bequemer zu artikulieren, wiegt damit aber fast grotesk die alte Ausspracheerleichterung wieder auf, die durch die Verbindung „m-f-t“ erreicht war. Neuhochdeutsch „Vernun-f-t“ ist schwieriger zu artikulieren als die alte Form „Vernum-f-t“. Ähnlich grotesk verläuft die Entwicklung einer der beiden gegenwärtig ungefähr bedeutungsgleichen Bezeichnungen „Brunst“ und „Brunft“. Erstere ist mit der üblichen Einfügung eines „s“ nach „n“ erkennbar von „brenn-en“ abgeleitet; die andere von „brumm-en“ mit der üblichen Einfügung eines „f“ nach „m“. Auch hier hat sich später das ursprüngliche „m“ zu „n“ abgeschwächt, so daß ich im schriftlichem und vor allem im mündlichen Sprachgebrauch eine nicht sofort erkennbare Bedeutung wie vor allem eine komplizierte Lautfolge ergeben hat. Diese aber revidieren fast alle, die das Wort „Brunft“ aussprechen: Man prüfe sich selbst und höre anderen genau zu – es kling nun eindeutig wieder wie „Brumft“. Sprachliche Entwicklungen und Gewohnheiten lassen sich durch eigentlich sinnlose  Regelungen auf Dauer weder regeln noch aufhalten, und die Sprachpfleger sind gehalten, dem Volk immer wieder erneut „aufs Maul zu schauen“, wie es schon Martin Luther empfohlen und getan hat.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020