„Rumpelstilzchen“

Umrätselter Name in einem berühmten Märchen der Brüder Grimm

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Rumpelstilzchen“
 
Umrätselter Name in einem berühmten Märchen
der Brüder Grimm
 
Von Heinz Rölleke
 
Am Ende von Richard Wagners Oper „Das Rheingold“ fragt Fricka nach der Bedeutung des Namens der neu erbauten Götterburg „Walhall“:
 
                                   „Was deutet der Name?Nie, dünkt mich, hört ich ihn nennen.“
 
Den ersten Vers könnte man auch auf den Namen „Rumpelstilzchen“ beziehen, nach dessen Bedeutung immer wieder gefragt wird. Der zweite Vers würde auf den geheim gehaltenen Namen des Dämons im Märchen „Rumpelstilzchen“ passen, den dieser noch nie von andern hat 'nennen' hören.
 
In einer in diesem Jahr erschienenen durchweg gelungenen Studienausgabe zu ausgewählten Grimm'schen Märchen findet sich ein neuerer Erklärungsversuch zu Herkunft und Bedeutung dieses auf den ersten Blick in vieler Hinsicht rätselhaften Namens, wie er in allen Auflagen der „Kinder- und Hausmärchen“ zwischen 1812 und 1857 schon im Titel erscheint (in der ältesten Niederschrift des Textes durch Wilhelm Grimm lautet er „Rumpenstünzchen“):
 
                        „Der ungewöhnliche Name […] lädt zu Spekulationen ein. Die Grimmsche Handschrift führt 'Rumpenstünzchen' als Bezeichnung für ein Spiel auf. […] Ein Stünzchen ist ein kleiner Behälter. Der 1812 veränderte zweite Bestandteil 'stilzchen' meint 'kleine Stelzen', also im übertragenen Sinn die Beine des Männchens. Zum ersten Wortbestandteil 'rumpen' führt Grimms Wörterbuch die Bedeutungen 'verrunzeln' und 'verbiegen' auf. […] Erst für die Druckfassung fügen die Brüder Grimm den Wutanfall mit dem Aufstampfen und das Sich-Zerreißen des Männchens ein. […] die Forschung hat es bisher übersehen: Das lateinische Ursprungswort von 'rumpen' bzw. 'rumpeln' ist 'rumpi', und dieses Wort hat auch die Bedeutung 'entzweireißen'. Die Brüder Grimm realisieren durch das Anfügen des Schlußes […] gewissermaßen jenes
Potential, das im Namen der Figur ohnehin angelegt war.
 
Die später handschriftlich nachgetragene Bemerkung Jacob Grimms zur Niederschrift seines Bruders lautet:
 
                        „Fischarts Spiel Verzeichnis n° 363 'Rumpele stilt,oder der Poppart'.“
 
Dieser Name bezeichnet bei Fischart („Geschichtklitterung“ aus dem Jahr 1582) ganz eindeutig ein Kinderspiel, das wohl mit lauten Geräuschen verbunden war; darauf weisen dieWorte „rumpeln“ und „Poppart“, die beide undefinierbare dumpfe Geräusche bezeichnen. Die Spielbezeichnung hat also mit dem Märchen selbst direkt nichts zu tun. Jacob Grimms Hinweis spielt auf einen Gleichklang mit der neuen (vielleicht auch durch Fischart angeregten) Form der Märchenüberschrift „Rumpelstilzchen“ (und nicht auf „Rumpenstünzchen“) an. In Grimms Anmerkung wird seit der Erstauflage von 1812 behauptet: „Schon Fischart kann das Alter dieses Märchens bezeugen“ - eine wider besseres Wissen falsche Information, die den Leser überzeugen soll, daß das Märchens schon vor 230 Jahren in Deutschland bekannt war.
 
Zum zweiten Bestandteil des Namens „stünzchen“ weist Vilmars „Idiotikon von Kurhessen“ nach, daß das Wort seinerzeit in Oberhessen nicht gebräuchlich war - es dürfte sich also im Vortrag der Beiträgerin (wahrscheinlich Marie Hassenpflug aus Hanau) um eine niederhessische Bezeichnung handeln. Aus zeitgenössischen Kontexten geht hervor, daß 'Stünzchen' meist kleine Melkeimer oder Waschzuber. Der zweite Teil dieses Namens („Rumpelstilzchen“) weist hingegen auf das eine Bein des Kobolds hin (solche Zwischenwesen wurden früher oft als einbeinig vorgestellt), von dem es in der Märchenfassung von 1812 ausdrücklich heißt:
 
                        „[...] vor dem Haus war ein gar zu lächerliches Männchen, das sprang als auf einem Bein davor herum und schrie.“
 
Diese Kennzeichnung blieb bestehen, obwohl seit der Zweitauflage von 1819 am Ende ausdrücklich von zwei Beinen Rumpelstilzchens die Rede ist:
 
                        „'Das hat dir der Teufel gesagt', schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß […] in die Erde […], dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich selbst mitten entzwei.“
 
Das unerwartet drastische Finale war von Grimms aus einer weiteren durch Lisette Wild beigetragenen Variante des Märchens eingerückt worden; das erklärt den Widerspruch zwischen der Anspielung auf einen einbeinigen Dämon, der am Ende als zweibeinig imaginiert wird.
 
Der Name „Rumpenstünzchen“ läßt an ein altes, von Kindern gestaltetes Brauchtum mit der Bezeichnung „Rummeltopf“oder„Rummelpott“denken.
Im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ liest man dazu:
 
                        „An vielen Orten […] ziehen um die Weihnachts- und Fastenzeit […] Knaben mit einem Rummeltopf herum. Es ist ein mit einer Ochsen- oder Schweinsblase überspannter Topf; in der Blase ist ein aufrecht stehendes Rohrstück befestigt, […] wodurch ein brummende Geräusch entsteht.“
 
Verwandt ist der Begriff „Rumpelmette“, der ebenfalls auf einen von Kindern gestalteten Brauch hinweist:
 
                        In den letzten Tagen der Karwoche machen an vielen Orten […] die Schüler mit Klappern und Hämmern […] einen wilden Lärm, den man als Rumpelmette bezeichnet.“
                       
Der neuere Name „Rumpelstilzchen“ dürfte tatsächlich auf einen einbeinigen lärmenden Kobold anspielen. „Stilzen“ bedeutet „stelzen“ oder „stützen“. Der Name deutet also auf einen kleinwüchsigen Dämon, einen 'Stilz', der auf seinem einen Bein wie auf einer Stelze oder Stütze steht. Das iterative Verb „rumpeln“ hat die Bedeutung „lärmen, poltern“, und entsprechend erläutert Grimms Wörterbuch „Rumpelstilz“ als Bezeichnung eines lärmenden Kobolds. Die Nebenbedeutungen „verrunzeln“ oder „verbiegen“ führen in diesem Fall nicht weiter.
 
Auch was die Fischart'sche Spielbenennung betrifft, trifft das Aberglauben-Handbuch (mit Verweis auf Grimms Märchen) das Richige:
 
                        „Poppart ist ein Klopfgeist. Rumpelestilt ist demnach der 'Klopfgänger' von stelt, stilt, stelze […] und rumpeln = poltern“
 
Die Einfügung des drastischen Endes ist nicht von Gnaden der Brüder Grimm geschehen, sondern schlicht eine Übernahme der von Lisette Wild beigetragenen Erzählvariante. Damit dürfte die Spekulation an Wahrscheinlichkeit verlieren, es seien die Brüder Grimm gewesen, die mit diesem neuen Schluß das „Potential, das im Namen der Figur ohnehin angelegt war“ realisiert hätten.
 
Daß das Wort „rumpeln“ auf ein lateinisches Ursprungswort („rumpi“) zurückzuführen ist, läßt sich wohl nicht nachweisen (zumindest ist davon in allen einschlägigen etymologischen Wörterbüchern nirgendwo die Rede); vielmehr dürfte es sich bei „rumpere“ und „rumpeln“ jeweils um lautmalerische Wortbildungen handeln.
 
Die angeblich verbindende Brücke zwischen „rumpere“ und „rumpeln“ ist nicht tragfähig, zumal das lateinische Wort (in der Hauptbedeutung 'zerteilen') wohl kaum bei der Formulierung „riß sich selbst mitten entzwei“ Pate gestanden hat. Es sprechen also alle Belege dafür, mit dem Grimm'schen Wörterbuch „Rumpelstilz“ als Rumpel- oder Poltergeist zu identifizieren. Das „Männlein“ im Märchen ist eine Ausgabe en miniature: „Da trat ein kleines Männchen herein“, heißt es beim ersten Auftreten des geheimnisvollen Dämons, der mit Zauberkraft die vom König abgeschlossene Tür zur Kammer mit dem Stroh und der verzweifelten Müllerstochter geöffnet hatte.
 
Die „Forschung“ hat einen neuerlich vermuteten Zusammenhang zwischen „rumpere“ und „rumpeln“ nicht „übersehen“, sondern mangels Beweisen nie in Erwägung gezogen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020