Benefizkonzert zum Tag der Deutschen Einheit

Das Sinfonieorchester Wuppertal unter Łukasz Borowicz glänzte mit Strawinsky, Kussewitzki und Tschaikowski

von Johannes Vesper

Andrew Lee - Łukasz Borowicz - Foto © Gerhard Bartsch

Sinfonieorchester Wuppertal
 
Benefizkonzert zum Tag der Deutschen Einheit
 
Von Johannes Vesper
 
Dreißig Jahre Wiedervereinigung. Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? In Fernsehen und Presse wird zwar viel darüber geredet und geschrieben, aber der Tag wird gefeiert und traditionsgemäß lädt das Sinfonieorchester Wuppertal am 3. Oktober zu einem Benefizkonzert ein. In diesem Jahr erbringt das Konzert 10.250.- €, und die Spende geht an „ZWAR“, eine Vereinigung älterer Mitbürger, die zwischen Arbeit und Ruhestand ihr Leben zusammen gestalten wollen. 1979 im Rahmen eines Seniorenstudiums zur Unterstützung „sozialer, kultureller und politischer Beteiligung von Menschen in der nachberuflichen Lebensphase“ entwickelt, gibt es ZWAR-Gruppen inzwischen landesweit in NRW, allein 12 in Wuppertal. Renate Wernecke und Frank Gottsmann nahmen den Scheck entgegen. Oberbürgermeister Andreas Mucke sprach in der letzten offiziellen Rede seiner Amtszeit über die Bürgerpflicht, stets für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gegen Diskriminierung von Minderheiten aller Art einzutreten. Für seine Abschiedsrede erhielt er langanhaltenden, warmen Applaus, zu dem sich die Gäste von ihren Plätzen erhoben.
 
Bei der Nationalhymne durfte wegen Corona nicht mitgesungen werden. Das sehr gut besuchte Festkonzert wurde mit der einsätzigen Bläsersinfonie für 24 Bläser von Igor Strawinsky (1882-1971) eröffnet, der das Werk 1920 zum Tod seines Freundes Claude Debussy geschrieben hat. Der polnische Dirigent Łukasz Borowicz, der als Sternschnuppe am Musikhimmel Karriere gemacht und vor vielen großen Orchestern Europas, darunter allen bedeutenden polnischen Orchestern, gestanden hat, bietet eine eindrucksvolle Diskographie von mehr als 30 CDs. Mit klarem Dirigat gestaltete er trotz stellenweise vertrackter Rhythmik mit allen Bläsern hinter Spuckschutzwänden die etwas spröde Musik souverän, immer ausgleichend zwischen den verschiedenen Bläsergruppen.
 
Sergei Kussewitzki (1874-1951) hat als Chefdirigent des Boston Symphony Orchesters 24 Jahre lang das amerikanische Musikleben geprägt. Bela Bartok schrieb auf seinen Auftrag hin sein Konzert für Orchester. Lorin Maazel wie Leonard Bernstein wurden von ihm gefördert bzw. entdeckt und er veranlaßte Maurice Ravel die „Bilder einer Ausstellung“ zu orchestrieren. Als Komponist zwar weniger bekannt, gehören seine Kontrabaßkonzerte auch heute noch zum Repertoire. Das dreisätzige 17-minütige Konzert für Kontrabaß und Orchester in fis-moll op. 3 lebt nach von spätromantisch-russischen, nahezu schwärmerischen, gefühlsbetonten Melodien, die auf dem Kontrabaß allerdings ihr eigenes Flair entwickeln. Das Konzert wurde vom Komponisten seiner Geliebten gewidmet, der Tochter eines sehr reichen Teehändlers. Die beiden heirateten noch im gleichen Jahr. Solist Andrew Lee spielt seit 2013 stellvertretender Solokontrabassist hier im Sinfonieorchester Wuppertal. Alles andere als ein verbitterter alter Kontrabassist wie bei Süskind, spielte er mit hinreißender Technik das stellenweise virtuose Konzert, immer wieder tief über die Zargen gebeugt, mit Daumenaufsatz hoch hinauf in Richtung Steg. Bei Harfenarpeggien und Zwiesprache mit den verschiedensten Orchesterstimmen schöpfte er seelen- wie ausdrucksvoll alle Möglichkeiten des Kontrabasses aus. Als Mitglied des Kontrabaßensembles Bassiona Amorosa eine Traumbesetzung für dieses tiefe Liebeslied. Welch seltenes Bonbon des Programms. 


v.l.: Carola Seibt, Konzertmeister Yusuke Hayashi, Andrew Lee - Ensemble - Foto © Gerhard Bartsch

Inzwischen schon an Konzerte ohne Pause gewöhnt, wurde zuletzt Peter I. Tschaikowskis (1849-1893) sehr bekannte Streicherserenade op. 48 angestimmt. Aus seiner Verehrung für Mozart entstand die relativ kleine Orchesterbesetzung zwischen Streichquintett und Kammerorchester, damals keine Forderung von Virologen und Gesundheitsämtern. In Bewunderung für Mozarts Leichtigkeit und Eleganz schrieb Tschaikowski dieses Werk, in welches er sich selbst „schrecklich verliebte“ und dessen Uraufführung 1880 er kaum erwarten konnte. Komponiert hat er es in einer seiner seltenen Phasen psychischer Ausgeglichenheit und Stabilität: alle Sätze in Dur. Musikalisch vereint sich deutsche Spätromantik mit französischer Eleganz und russischer Seele. Die schnellen wie heiklen Passagen des 1. Satzes kamen gestochen in fast lupenreiner Brillanz. Für Walzer war Tschaikowski berühmt - man denke nur an den aus dem Nußknackerballett; der populäre des 2. Satzes gilt unter Musikern als höllisch schwer wegen seiner schwierigen Agogik. Vorhalte, Verzögerungen und a tempo-Wiederaufnahmen des Zeitmaßes gelangen in größter Leichtigkeit musikalisch und sensibel. Das Sinfonieorchester Wuppertal mit Konzertmeister Yusuke Hayashi folgte dem Dirigat des Gastdirigenten aufmerksam und konzentriert, während das Publikum vom Herbstball im Großen Saal der Historischen Stadthalle träumte und „sich jünger und munterer“ fühlte, wie Tschaikowski bei Mozart. Elegisch sangen Violoncello und Geige im Adagio des 3. Satz einander zu, bevor sich die Bratsche herrlich lyrisch zu Ohr meldete. Nach wunderbaren Pianissimi, Generalpause und Himmelssphärenmusik wird Im flotten 4. Satz der russischen Seele mit 2 Volksliedern unterschiedlichen Charakters gehuldigt. Zuletzt erklingt noch einmal das markante Eingangsthema aus dem 1. Satz, bevor das Konzert mit einer sehr schnellen Stretta furios zu Ende geht. Nach starkem Applaus leert sich der Saal in alle Richtungen im Gänsemarsch, entsprechend den Forderungen des Gesundheitsamtes.

 
Fotos: Gerhard Bartsch – Redaktion: Frank Becker