Schlüsselerlebnisse

Annie Ernaux – „Die Scham“

von Johannes Vesper

«Tu vas me faire gagner malheur»
 
Annie Ernaux: Die Scham
 
Du stürzt mich ins Unglück“ schrie die 12jährige ihren Vater an, als sie beinah Zeugin eines Verbrechens geworden wäre. Warum der Vater mit dem Beil in der Hand sonntagmittags auf ihre Mutter losgehen wollte, erfährt man nicht. Irgendwie ging die Situation vorüber und die kleine Familie machte eine Fahrradtour aufs Land. Die Tat oder auch nur eine ähnliche hat sich nie wiederholt. An diesem Schlüsselerlebnis ihres Lebens hat die Autorin ständig genagt und sich erst 45 Jahre später daran gewagt, es aufzuschreiben. Nimmt das Aufschreiben der Tat die Bedrohlichkeit? Jedenfalls hielt sie spätere Zeichen der Zuneigung ihrer Eltern für Momentaufnahmen. Sicherheit für Zukunft und Beständigkeit der Beziehung vermochte sie daraus nicht abzuleiten. Als Besitzer einer Vorstadtkneipe mit kleinem Tante-Emma-Laden gehörte die Familie nicht zu den feinen Leuten. Auf der Suche nach sich selbst versucht die Autorin sich an Ereignisse aus dem Jahr des Anschlags (1952) zu erinnern, sucht im Stadtarchiv nach der Zeitung des Tages, entdeckt Comics von damals, Werbung, Filme. Sie versucht, sich ihre Welten, in denen sie damals lebte, wieder vor ihr inneres Auge zu holen.
 
Wird sie sich gut 40 Jahre später in die 12jährige von damals zurückversetzen können? Die Autorin erinnert die Regeln, die damals für sie aufgestellt worden waren: kein Essen, kein Wasser verschwenden. Sie erinnert sich, wie das Huhn beim Schlachten zwischen die Beine geklemmt wurde. Wichtig war das Erlebnis ihrer ersten Menstruation oder wann sie Nylonstrümpfe anziehen würde. Erziehungsziel war die Höflichkeit, die Erziehungsmittel Ohrfeige und Prügel, Beten und Beichten gehörten in ihrer katholischen Privatschule zwischen Rouen und Dieppe zu den dauernden Ritualen. Freundinnen hatte sie keine gehabt. Gelesen habe sie ungefährliche, gleichwohl verbotene Mädchenlektüre. Auf ihren Ruf in der Schule legte sie besonderen Wert und schämte sich, wenn ihre Mutter das Nachthemd zum Abwischen nach dem Wasserlassen benutzte. Was hätten die Lehrer gesagt, wenn sie die familiäre Situation mitbekommen und von dem väterlichen Angriff auf die Mutter erfahren hätten? Seitdem lebte sie in Scham und fühlte sich gesellschaftlich ausgeschlossen. Mit dem Vater fuhr sie ein Jahr später nach Lourdes. Die Mutter hatte sie zu dieser Gruppenreise angemeldet. Sie schliefen in Hotels, wo es viel schöner als zu Hause war, besuchten Cafes und Restaurants, gingen am Strand von Biarritz in Straßenkleidung spazieren, weil Badezeug fehlte. Und sie bemerkte schon, daß sie sich im Restaurant mit Kartoffelbrei aus Futterkartoffeln begnügten, während der schickere Teil der Reisegesellschaft a la carte aß. Touristische Ziele suchten junge Mitreisende auf. Vater und Tochter hatten keine Vorstellung, was man hätte ansehen sollen. So bekam sie als heranwachsendes „Kind im Wachstum, groß, flach und kräftig“ eine Idee von der Schichtung der Gesellschaft und schämte sich ihrer gesellschaftlichen Herkunft.
 
Nach dem Anschlag auf die Mutter bestimmte die Scham ihre Existenz völlig und verbindet sie noch als bücherschreibende Literatin Jahrzehnte später mit der Zwölfjährigen von damals. Sehr unvermittelt und überraschend bekennt sie im Schlußsatz, daß sie noch stärker ihre Identität und Beständigkeit beim Orgasmus spüre, den sie aber erst zwei Jahre später erstmalig erlebt habe. Die vorliegende Erzählung stammt aus dem Jahr 1997. In ihrem Roman „Erinnerung eines Mädchens“ von 2016 sucht sie erneut ihre Identität und ihr Inneres, diesmal anknüpfend an die Erinnerung ihrer Vergewaltigung als 18jährige in der Schule. Diese Romane sind offensichtlich nicht fiktiv sondern eher autobiographisch zu verstehen, aber alles andere als private Tagebücher.
 
Annie Ernaux – „Die Scham“
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
© 2020 Suhrkamp Verlag Berlin, 111 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-518-22517-2
18,- €
 
Weitere Informationen: www.suhrkamp.de