Die „Nacht“ und die „Acht“

Rätsel in der indogermanischenSprachentwicklung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Die „Nacht“ und die „Acht“
und was der Buchstabe „A“ bedeutet
 
Rätsel in der indogermanischenSprachentwicklung
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Die Sprachwissenschaften haben einige Rätsel der Sprachentwicklung noch nicht befriedigend lösen können; bislang wurden eher Spekulationen als tragfähige Antworten gegeben.
 
An zwei Beispielen kann das Problem verdeutlicht werden. Man ist eingeladen, weiter darüber nachzudenken.
 
1. Haben die ähnlich klingenden Bezeichnungen der Zeitbestimmung „Nacht“ und der Zahl „Acht“ etwas miteinander zu tun?
 
2. Kommt dem Vokal „A“ eine spezifische Bedeutung zu?
 
1. Die gemeinsame Wurzel der verschiedenen Namen für die Nacht im indoeuropäischen Sprachbereich hat die Wissenschaft überzeugend auf die erschlossene Form *nokt zurückgeführt. Unsere indogermanischen Vorfahren haben zwar die Zeitbestimmungen für „Jahr“, „Monat“ und eben „Nacht“ gekannt, bezeichnenderweise aber nicht für „Tag“. Daraus ist zu schließen, daß es vor der Ausdifferenzierung des Indogermanischen in verschiedene Sprachstämme (germanisch, romanisch, slawisch und andere) für die „Nacht“ eine Bezeichnung gab, die mit leichten Abwandlungen bis heute in allen indogermansichen Sprachen weiterlebt - nicht jedoch für „Tag“: Dafür mußte jede nachindogermanische Sprachfamilie ein eigenes, neues Wort bilden. Die „Nacht“ war für unsere ältesten Vorfahren ein zu wichtiges Phänomen, als daß es hätte unbezeichnet bleiben können; der „Tag“ spielte für sie keine Rolle. Auf der früheren hirtenkundlichen Entwicklungsstufe war den Menschen die dunkle „Nacht“ mit ihren wechselnden Mondphasen bedeutsamer als der Tag: Nachts mußten die Hirten mehr oder weniger wachsam ihre Herden schützen, tagsüber konnte man schlafen. Das bestätigen noch heute gebräuchliche archaische Wendungen wie englisch „fort-night“ oder „sen-night“ (aus „seven-night“), die für vierzehn oder acht Tage stehen: Man zählt(e) nach Nächten und nicht nach Tagen.
 
Hier interessiert das merkwürdige Nebeneinander der Begriffe „Nacht“ und „Acht“ in den verschiedenen indogermanischen Sprachen, was eine Synopse leicht verdeutlichen kann.
 
                                                             „Acht“                      „Nacht“
 
            Indogermanisch                      *oktōu                      *nokt
            altgriechisch                             οκτώ (OKTO)           νύκτο (NYKTO)
            gotisch                                      achtau                     nahts
            lateinisch                                  octo                          nox
            althochdeutsch                         achto                        naht                                        
            deutsch                                     acht                          Nacht
            indisch                                      aarth                         raat
            englisch                                    eight                         night              
            französisch                               huit                           nuit
            italienisch                                  otto                          notte
            spanisch                                   ocho                         noche
            portugiesisch                            oito                           noite
            schwedisch                               åtta                           natt
            norwegisch                               åtte                           natt
 
Man darf bei Sprachbelegen nicht nur die Orthographie in Rechnung stellen, sondern man muß vor allem auch die Lautung in der mündlichen Rede berücksichtigen (etwa beim Nebeneinander von englisch „eight“ und „night“ oder französisch „huit“ und „nuit“). Bis auf eine Ausnahme (indisch „raat“) weisen alle angeführten Belege den „n“-Anlaut auf. Im Vokalismus überwiegen „a“ und „o“. Der auffallend häufig begegnende Endvokal „o“ läßt Rückschluß auf eine ursprüngliche Dualform zu, die auf dem uralten indogermanischen Viererzählsystem basiert: „Acht“ ist zweimal „Vier“.  -  Zum alten Zählersystem gehört übrigens auch die bis heute gebräuchliche Bezeichnung „Dutzend“ (für dreimal „Vier“).
 
Wie kommt das „N“ vor die „Acht“ und was bedeutet das? Ein offenbar noch nicht restlos gelöstes Rätsel.
 
2. Was den Vokal „A“ betrifft und was er eventuell andeutet, so hat man schon seit langem Deutungen versucht. Vielleicht die interessanteste geht auf den Sprachforscher Johann Georg Hamann (1730 bis 1788) zurück. Der erste Vokal im griechischen wie im lateinischen Alphabet bezeichne so etwas wie den Anfang allen Sprechens. In der menschlichen Sprache werde dieser Vokal aus tiefster Brust geschöpft und sei daher so etwas wie die Basis aller Vokale (man vergleiche das Ende des 18. Jahrhunderts aufgestellte Hellwag'sche Vokaldreieck, in dem das „A“ immer die unterste Stufe der Lautbildung innehat; siehe den Beitrag „Von Gleitkonsonanten und Vokalharmonien“ in den Musenblättern vom 1. Oktober 2020). Hamann und viele andere berufen sich dabei auch auf die auffallend vielen „A“-Laute bei den Benennungen des Elements „Wasser“, das nach dem Vorsokratiker Thales von Milet (Ende des 7. Jahrhunderts vor Christus) Ursprung allen Lebens ist (Aristoteles: „Thales bezeichnet als ARCHAE das Wasser“). Thales gilt als der erste Vertreter des sogenannten Neptunismus (alles Leben kommt aus dem Wasser), einer Theorie, der auch Goethe zugeneigt war (vgl. „Faust II“, Ende des 2. Aktes). Vielleicht kann die stupende Reihe von sprachlichen Belegen  für „Wasser“ die alte These stützen: Lateinischaqua“, althochdeutsch „wazzar“, englisch „water“, spanisch agua“, schwedisch „vatten“  - um nur einige Beispiele anzuführen. Dazu könnte man viele Bezeichnungen für „Meer“ stellen etwa: Altgriechisch THALATTA, Lateinisch „mare“, gotisch „marei“, altnordisch „marr“, schwedisch „hav“.
 
In der neuhochdeutschen Sprache sind noch zahllose Zeugnisse für die Bezeichnung des flüssigen Elementes mit dem Stammvokal „A“ erkennbar:
„Bach“, „Bad“, „Lache“ - besonders viele Fluß- und Ortsbezeichnungen weisen ein markantes „A“ auf: Besonders bekannt ist der Name „Aa“ für einen Fluß und einen See bei Münster, ein Name, der ansonsten über dreißigmal als Bezeichnung  für Gewässer vor allem in Nordrhein-Westalen begegnet. Dazu stellen sich zahllose Wortbildungen auf „a“ wie„Maas“, „Saar“, „Nahe“, „Aachen“ oder „Bacharach“; ein Flüßchen im Süden von Neuss heißt gegenwärtig „d e r  Gilbach“, ein Name, den man etymologisch unzutreffend als Masculinum „Gil-Bach“ mißversteht; tatsächlich leitet sich die Bezeichnung vom usprünglichen Femininum „d i e  Gilb-Ach“ (gelbes Wasser) her, denn „Bach“ wurde bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als Femininum geführt.
 
Besonders eindrucksvoll sind die sprachgeschichtlichen Zusammenhänge der Bezeichnung „Maar“, die heute vor allem noch durch das Kompositum „Eifelmaar“ geläufig ist. Das „Maar“ ist eine trichterförmige, mit Wasser gefüllte Mulde, und das Wort weist durchaus auf die rekonstruierte altgriechische Benennung eines trichterförmigen Wassergrabens *AMARA zurück.
 
Wie schon Bert Brecht sagte: „Der Vorhang fällt und alle Fragen ungelöst.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020