Der alte Mann (24)

Vorlaut

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker

Der alte Mann und sein Hund

Folge 24
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Eigentlich war das erste Herumstreunen kein Spaziergang, sondern ein Überprüfen, ob die Welt noch da war. Sein Hund liebte es durch den Kilianspark zu toben, um seine vertraute Umgebung auszuloten. Sie überquerten die Straße und standen auf dem Parkplatz, wo der alte Mann den Hund ableinte. Der kleine Kerl lief sofort los und war nicht eher zufrieden, bis alles markiert und abgeschnuppert war. Der alte Mann schaute sich um. Er mußte aufpassen, daß sein Hund niemanden zu sehr mit seiner Lebensfreude aufwühlte. Nun wo die Uhrzeit umgestellt war, wurde es gegen 7 Uhr hell und man traf bei seinem Gang noch andere Frühaufsteher: Fahrradfahrer, die zur Arbeit mußten, Mütter, die ihre Kinder im Kindergarten ablieferten und natürlich auch Hundebesitzer, die im Licht des beginnenden Tages ihre Hunde ausführten. Manche hatten ihrem Liebling einen Leuchtkranz umgebunden, weil man ihn so schon von Weitem sehen konnte. Er kannte einen Pudel, der wirkte damit wie ein Weihnachtsbaum, gerade wenn er einen grünen Pullover trug. Der Collie von seiner Nachbarin blinkte im Dunkeln, als wäre er bei der Polizei und müßte zu einem Einsatz. Er selbst wollte seinen Hund nicht beleuchten, der kleine Kerl war ja schon eingeschnappt, wenn man ihm ein Geschirr umschnallte. Plötzlich stand ein junger Vater mit seiner Tochter vor ihm. Sie mußten vom Kiliansplatz gekommen sein, wo auch eine Bushaltestelle war. Das kleine Mädchen sah ihn an und sagte: „Sie müssen ihren Hund anleinen.“ Der alte Mann nickte. So wie das Kind das herausbrachte, wollte es dafür gelobt werden. Er suchte nach den richtigen Worten, aber fand keine. „Sei nicht so vorlaut“, sagte der Vater zu seiner Tochter und zog sie kopfschüttelnd in Richtung Kindergarten. Der alte Mann blieb verdutzt zurück. „Vorlaut“, murmelte er. „Wer sagt denn heutzutage noch „vorlaut“?“ Er hatte gehört, daß Wörter wie „Bandsalat“, „Stelldichein“ und „Purzelbaum“ vom Aussterben bedroht waren, aber „vorlaut“? Wer sagte heutzutage noch „vorlaut“, wenn jemand nicht warten konnte, bis er an der Reihe war? Er schaute dem jungen Vater hinterher. „Ist vorlaut das Gegenteil von vornehm“, wollte er rufen, aber er hielt sich zurück. Er hatte das Gefühl, das wäre auch vorlaut gewesen. Er leinte lieber seinen Hund an und winkte dem kleinen Mädchen nach.
 
 
© 2020 Erwin Grosche