„Martin, lieber Herre, nun laßt uns fröhlich sein“

Über das Martinsfest am 11. November

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Martin, lieber Herre,
nun laßt uns fröhlich sein“
 
Über das Martinsfest am 11. November
 
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Nach wie vor erfreut sich das seit dem Jahr 650 am 11. November offiziell gefeierte Martinsfest großer Beliebtheit. In wechselnden Formen und Gebräuchen wird es schon seit etwa tausend Jahren kontinuierlich begangen. Trotz der in jüngerer Zeit wachsenden Konkurrenz durch die kalendarisch zeitnahen Halloween-Bräuche am 31. Oktober und 1. November haben sich alte Traditionen zuletzt erkennbar wieder belebt. Die Presse berichtete kürzlich von tausenden Martinsumzügen allein in NRW.
 
Wie ist es zu diesem Festtag gekommen? Der Heilige Martin (um 336 im heutigen Ungarn geboren) wurde am 11. November 397 als Bischof von Tours beigesetzt. Er ist der erste Heilige, dem die römische Kirche öffentliche Verehrung erwiesen hat - dekretiert im Jahr 650 durch Papst Martin I. (!). Diese Verehrung strahlte alsbald über ganz Europa aus. Als römischer Soldat hatte er als Reiter zu Pferde nach dem Bericht einer Legende am Stadttor von Amiens seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt, und im Traum habe sich ihm Jesus als dieser Bettler offenbart (nach dem Bibelwort Mt. 25.40: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“). Martin war als Gründer des Zönobitenklosters der erste Mönchsvater des Abendlandes. 371 wurde er von Klerus und Volk zum Bischof von Tours gewählt. Die Legende erzählt, daß er sich der Wahl entziehen wollte und sich unter Gänsen in einem Stall versteckte; deren Geschnatter verriet ihn jedoch. Er machte sich bald einen Namen als Volksarzt und Bekehrer der sogenannten Heiden. Das Christentum hatte sich von Rom aus zunächst nur in den größeren Städten verbreitet, die zum Teil auf römische Gründungen zurückgingen. Die Nichtchristen nannte man „pagani“, und mit demselben Wort wurden auch die Dorfbewohner, Bauern und Landleute bezeichnet, um die sich die christlichen Missionare bis dato nicht gekümmert hatten. Diese moderne Seelsorge machte den Heiligen schon zu Lebzeiten populär. Die Beliebtheit stieg nach seiner Beisetzung in einer Kapelle der Kathedrale von Tours, denn zu seinem dort als Reliquie aufbewahrten Mantel (mittellateinisch „capella“), der den kleineren Kirchengebäuden und deren Geistlichen („Kaplan“) ihre bis heute gebräuchlichen Namen gab, entwickelte sich ein großes Wallfahrtswesen zu diesem fränkischen Nationalheiligtum. Die Merowingerkönige bis hin zu Karl dem Großen verehrten die Reliquie öffentlich, und bald wurde Sankt Martin unter anderen Patron der Reisenden, der Armen, der Bettler, der Flüchtlinge, der Gefangenen, der Soldaten (obwohl ihm sein Militärdienst verhaßt war und er später förmlich zum Wehrdienstverweigerer wurde) sowie der Gänse – und schließlich sogar der Trinker. Und das kam so.
 
Der 11. November wurde schon im alten Rom als Erntedankfest gefeiert und galt seit je als Abschluß des alten und Beginn des neuen Wirtschaftsjahres sowie als gefühlter Winterbeginn (so sagt es auch die alte Redensart: „St. Martin macht Feuer im Kamin“). Es war das Datum, zu dem das Gesinde seinen Jahreslohn bekam und gegebenenfalls seinen Dienst wechselte. Auch der Dichter Walther von der Vogelweide erhielt von seinem damaligen bischöflichen Arbeitgeber sein Salär bezeichnenderweise mit dem Gesinde, denn die einzige erhaltene Notiz über sein äußeres Leben ist auf den 12. November 1203 datiert. Sie lautet: „walthero de vogelweide pro pellicio V solidos longos“ (dem Sänger Walther von der Vogelweide für einen Pelzmantel 5 Schilling).
 
Am Tag nach dem Martinsfest begann das 40-tägige Adventsfasten, vor dem man sich noch einmal rundum gütlich tat - wie noch heute vor der mit dem Aschermittwoch beginnenden österlichen Fastenzeit. Grund zum Feiern allemal, zumal jetzt der erste Wein des ablaufenden Jahres trinkbar wurde („Martinswein“ nannten ihn die Winzer, zumal eine Legende erzählt, daß es Martin gewesen sei, der den Qualitäts-Weinbau an der Loire beeinflußt hätte). Anlaß genug also für eine der im Mittelalter unvorstellbar üppigen Schmausereien, zumal um diese Zeit auch die Gänse fett waren und aufgetischt wurden. In einem seit 1400 belegten Kanon heißt es entsprechend:
 
                        „Martin, lieber Herre,
                        nun laßt uns fröhlich sein
                        heut zu deinen Ehren
                        und durch den Willen dein!
                        Die Gäns sollst du uns mehren                     
                        und den kühlen Wein!
                        Gesotten und gebraten,
                        sie müssen all herein!“
 
Mit dem Schlachten und Verzehren der Gänse glaubte man insofern St. Martin zu ehren, weil man sie so für ihren Verrat des Heiligen vor der Bischofswahl zu bestrafen dachte. Auch mit dem reichlichen Genuß von „Märteswein“ wollte man den Heiligen ehren, damit er auch im nächsten Jahr eine reiche Ernte bescheren möge. Aß und trank man des Guten zu viel, stellte sich das 'mal de Martin', das „Martinsgrimmen“ ein – aber dafür war wiederum Martin als Patron der Trinker natürlich ein guter Arzt.
 
Im Jahr 1682 nennt Christian Weise in seinem „Tobias“ vorweihnachtliche Gabenbringer: „wenn St. Merten und St. Andres (Festtag am 30. November) zu'n Kindern kömmt.“ Wenn die Erwachsenen schwelgten, sollten auch die Kinder nicht leer ausgehen, und so wurde der heilige Martin neben dem heiligen Nikolaus zum vorweihnachtlichen Gabenbringer und ist es bis heute geblieben – er beschenkt die Kinder mit Weckmännern, Äpfeln und Nüssen. Dadurch kamen die Beschenkten auf den Geschmack und sammelten weitere Gaben an den Türen der Nachbarschaft ein, indem sie dort ihre Lampen leuchten ließen und dabei Martins- wie Heischelieder sangen. Für die ältesten dieser Lieder hat man eine 800 Jahre währende Tradition nachgewiesen. Die gegenwärtig wieder so überaus populären Laternenumzüge der Kinder dürften an die stelle des alten Martinsfeuer getreten sein (wie die Feiern der Neujahrs-, Oster- oder Johannesfeuer ursprünglich ein vorchristliches Jahreszeitenfeuer zu Beginn des Winters).
 
Ingredienzien der hier vorgestellten Legenden und Bräuche finden sich in einem recht derben fünfstrophigen Martinslied mit je einem langen onomatopoetischen Refrain, das 1611 erstmals gedruckt wurde:
 
                        „Was haben doch die Gäns' getan,
                        Daß so viel müssen' s Leben lan?
                                   Die Gäns' mit ihrem Dadern,
                                   Da da da da da da da!
                                   Mit ihrem Geschrei und Schnadern
                                   Sant Martin han verraten
                                   Darum tut man sie braten.
                        Ists wahr, daß sie verraten han
                        Sant Martin, den heiligen Mann?
                        So müssens mit dem Leben zwar
                        Den Zehend geben alle Jahr.
                        Bei süßem Most und kühlem Wein
                        Vertreibt man ihn' das Dadern fein.
                        So laßt uns all ingemein
                        Bei 'braten Gänsen fröhlich sein!“
 
Ein späteres Zeugnis für die kontinuierliche Singtradition zum Martinsfest, die sich auch in evangelischen Bereichen gehalten hat, gibt J.D. Falk 1825 in seinem Buch „Dr. Luther und die Reformation in Volksliedern“ mit der Bemerkung zu einem alten Lied: „Von frühesten Zeiten ist der Martinsabend das fröhlichste Volksfest in ganz Thüringen.“ Es ist zu erwägen, ob diese reformatorische Liedfassung nicht auch oder gar ausschließlich Martin Luther meint, der die Heiligenverehrung abgeschafft hatte – entsprechend ist hier nur von einem „frommen“ Martin ohne die Beigabe des sonst obligatorischen „Sankt“ die Rede:
 
                        „Martin, Martin war ein frommer Mann,
                        zündet viele Lichter an,
                        daß er droben sehen kann,
                        was er unten hat getan.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020