Vom „U“ zum „Ü“

Eine sprachgeschichtliche Betrachtung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Vom „U“ zum „Ü“
 
Eine sprachgeschichtliche Betrachtung
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Nicht nur Ausländer sondern zunehmend auch hiesige 'native speaker' stehen bei ihren Fragen nach scheinbaren Unregelmäßigkeiten im heutigen deutschen Sprachgebrauch vor einem Rätsel. Mit Erklärungen tun sich Germanisten wie Deutschlehrer zunehmend schwerer. Seit man Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts begann, anstelle des historisch zentrierten Studiums der Mediävistik - in dem traditionell die Geschichte der deutschen Sprache von den Anfängen bis zur Gegenwart behandelt wurde - durch formalistische Linguistik zu ersetzen, weiß man immer seltener auf Fragen, etwa wie der häufige, offenbar unlogische und anscheinend sinnlose Wechsel beim Stammsilbenvokal vom „U“ zum „Ü“ zu verstehen sei, eine seriöse Antwort zu geben.
 
Ein Erklärungsversuch muß Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung, ein anderer Bedeutungsveränderungen im Laufe der Wortentwicklungen berücksichtigen.
 
Die Entwicklung der deutschen Sprache ist unter anderem durch zwei sogenannte Lautverschiebungen geprägt. Die ältere Lautverschiebung hatte im Übergang der indogermanischen Sprache noch in vorschriftlicher Zeit in die (ur)germanische Sprache statt. Deren Gesetzmäßigkeiten wurden übrigens 1822 durch eine geniale Entdeckung Jacob Grimms ermittelt, die unter dem Begriff „Grimm's law“ bis heute weltweit bekannt ist. Der Beginn der zweiten Lautverschiebung ist um 600 n. Chr. im süddeutschen Raum zu belegen. Sie setzte sich allmählich nach Norden hin durch. Unterschiedlicher mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Sprachgebrauch im Mittelalter läßt erkennen, daß sie die nördlicheren Regionen erst später, teils ansatzweise teils gar nicht erreichte. Erst mit der Kreierung einer einheitlichen deutschen Sprache um 1500 und der parallelen Erfindung des Buchdrucks nahm diese mündlich geprägte Lautverschiebung ein Ende. Der durch sie entstandene unterschiedliche Sprachgebrauch in Süd- und Norddeutschland (hoch- und niederdeutsch) blieb aber zu großen Teilen bis heute bestehen und wurde entsprechend festgeschrieben.
 
In der Lautentwicklung waren im Süden des deutschen Sprachraums aus „p“, „t“ und „k“ die 'verschobenen' „f“, „s“ und „ch“ geworden. Die sukzessive Weiterverbreitung dieser Umwandlung wurde an einer der markantesten Sprachgrenzen, der berühmten „Benrather Linie“, gestoppt, so daß die meisten Konsonantenverschiebungen zum Beispiel auch die englischen Sprache nicht erfaßten: „sal-t“ vs. „Sal-z“. Für den Wechsel vom 'modernen' Oberdeutsch zum 'beharrenden' Niederdeutsch stehen „Dor-f“ vs. „dor-p“, „da-s“ vs. „da-t“, „ma-ch-en“ vs. „ma-k-en“.
 
Die bis heute bestehende Festschreibung der Entwicklung um 1500 erklärt auch manche Eigentümlichkeiten der um diese Zeit zum Stillstand gekommenen Umlautungen etwa vom oberdeutschen „u“ zum niederdeutschen „ü“. Von diesen meist gesetzmäßigen Wandlungen, die in der Regel durch Vokalharmonie, das heißt Vokalangleichungen erklärbar sind (vor angehängten Silben, die den Vokal „i“ enthalten wie z. B. „-ig“ oder „-lich“ werden vorausstehende Vokale' aufgehellt': „M-a-cht“ zu „m-ä-chtig“, „fr-o-h“ zu
“fr-ö-hlich“, „G-u-nst“ zu „g-ü-nstig“, „K-u-nst“ zu „k-ü-nstlich“), müssen die nur durch Bedeutungswandel erklärbaren divergierenden Zwillingsformen unterschieden werden.
 
'Lautgesetzmäßig' entwickelt sich die Unterscheidung vom oberdeutschen „dr-u-cken“ zum niederdeutschen „dr-ü-cken“ (derselbe Wortstamm behält trotz Umlautung verschiedener Sprachformen dieselbe oder eine leicht veränderte Bedeutung). Vergleichbar sind lautliche Divergenzen, wie sie etwa in den Städtenamen süddeutsch „Innsbr-u-ck“ und norddeutsch „Osnabr-ü-ck“ (vgl. „Fürstenfeldbr-u-ck“ und „Saarbr-ü-cken“) gegeben sind. Hier ist die Identität der Bedeutung gewahrt: „Bruck“ und „Brücke“ bezeichnen gleichermaßen die Querung eines Flusses oder einer Schlucht. Eine Bedeutungsverengung hat sich beim Nebeneinander von „drücken“ und „drucken“ ergeben. Natürlich war mit der noch beide Bedeutungen umfassenderen Wortbildung derselbe Sinn gegeben: Es wird in irgendeiner Form „Druck“ ausgeübt. Da Gutenbergs geniale Erfindung sich in Mainz, also im oberdeutschen Sprachraum, entwickelt hatte, wurde die dort übliche Lautung überwiegend nur noch auf die Herstellung von Druckerzeugnissen beschränkt – und so ist der Stand der Dinge heute im ganzen deutschen Sprachgebiet: Vom „drucken“ wird nur noch im Blick auf Gedrucktes (Bücher, Zeitschriften, Geldscheine) gesprochen, vom „drücken“ als von jeder Art von Drückendem (aber eben nicht mehr von Druckerzeugnissen). Ähnliches läßt sich an oberdeutsch „Rucken“ und „rucken“ gegenüber niederdeutsch „Rücken“ und „rücken“ beobachten (davon zu trennen sind „Ruck“ und „rucke[l]n“, die auf ältere Formen in der Bedeutung 'movere', 'sich bewegen' zurückgehen). Die oberdeutsche Form wurde bei der Benennung des in den Alpenländern erfundenen „Ruck-sack“ herangezogen; eine Erfindung im niederdeutschen Sprachraum wäre 'Rück(en)-sack' genannt worden. So vermochte die ursprünglich nur oberdeutsche Bezeichnung „Ruck-sack“ in ihrer speziellen Bedeutung im 19. Jahrhundert auch ins Niederdeutsche und damit generell in die deutsche Hochsprache zu gelangen. Durchaus im Rahmen der lautgesetzlichen Vorgaben kann also eine Wortform, die im Lauf der Zeit eine Bedeutungsveränderung (meist Bedeutungsverengung) erfahren hat, in den je anderen Sprachbereich wandern, dabei werden umfassende Formen wie „drucken“ oder „rucken“ nur in ihren spezielleren Bedeutungen („Druck“sachen herstellen, einen Sack auf dem „Rücken“ tragen) in den anderen Sprachbereich übernommen.
 
Erst in späteren Zeiten, sozusagen 'nachträglich', entwickelte Vokalharmonien geben sichere Aufschlüsse über den Zeitpunkt der lautlichen Wandlung und vor allem über den Bedeutungswandel des zugrundeliegenden Stammwortes.
 
Dafür einige Beispiele. Das mittelhochdeutsche Wort die „munt“ bedeutet Schutz – diese Bedeutung ist etwa im heute noch gebräuchlichen Worte „Vormund“ und „Mündel“ erhalten (volksetymologisch hat man das alte Femininum „munt“ an das homophone Maskulinum „Mund“ angeglichen, so daß hier „diu munt“ zu „der Mund“ wurde). Das neue Wort „mün-dig“ läßt sich allerdings aufgrund seiner Bedeutung sicher auf das alte Substantiv „munt“ zurückführen: Der mündige Mensch ist selbständig, er steht nicht mehr unter dem Schutz seines Vormundes. Das Aufkommen des Adjektivs „mündig“ sagt also Genaues über den frühen Zeitpunkt seines Aufkommens aus; der Bedeutungswandel des Stammworts (Bezeichnung des Mundes als Teil des Gesichts) ist noch nicht gegeben.
 
Vom mittelhochdeutschen Substantiv „muot“ ist das Adjektiv „muot-ic“ abgeleitet. Diese Ableitung entstand eindeutig vor der Bedeutungsverengung des alten Hauptwortes, das als Umschreibung für 'Gemütslage', 'Stimmung' anzusehen ist. Der vornehmlich den Rittern im Mittelalter als Tugend zugeschriebene „hôhe muot“ wird durch eine positiv besetzte Wendung ausgedrückt: Sein Leben in hohem Mut zuzubringen, galt als erstrebenswerte Tugend. Mit dem Verfall des Rittertums im Spätmittelalter geriet das Wort in den auch sonst in diesem Bereich zu beobachtenden pejorativen Sprachstrudel und wurde zum negativ besetzten Wort „Hochmut“ (und „hochmütig“), das nun nicht mehr eine Tugend, sondern ganz im Gegenteil eine frevelhafte Haltung bezeichnet. Die bürgerliche Kultur prangerte den „hôhen muot“ des Adels als sündhafte Überheblichkeit, eben als „Hochmut“ an. Zugleich ist eine Bedeutungsverengung vom umfassenden Begriff „Mut“ auf den Sinn der heutigen Bezeichnung („Mut“ als Synonym für 'Tapferkeit', 'Unerschrockenheit') zu erkennen und ungefähr zu datieren. Aus dem Laster einer „hochmütigen“ Lebensführung ist die christliche Tugend der fortitudo, eben des Mutes, geworden. Die umlautenden Adjektivbildungen „gutmütig“, „sanftmütig“ sind vom alten Wort in seiner umfassenden Bedeutung (guten, sanften Sinnes) abgeleitet; das unumgelautete, später entstandene Lemma „anmutig“ bleibt noch im alten Bedeutungshorizont, während „kampfmutig“ oder „todesmutig“ erst nach Durchsetzung der Bedeutungsverengung gebildet wurden.
 
Das mittelhochdeutsche Wort „diu zuht“ ist von 'ziehen' abgeleitet, bezeichnete aber zunächst ausschließlich 'Erziehung', 'Sittsamkeit' und gehörte in dieser Bedeutung einschränkungslos zum Ritterlichen Tugendkatalog des Hochmittelalters. Das abgeleitete Adjektiv „züht-ic“ ist im gleichen Sinn zu verstehen. Erst als man in späterer Zeit auch das Fehlen dieser Tugend bezeichnen wollte, entwickelte sich das Kompositum „zuchtlos“ als Gegenbegriff zum ebenfalls neueren „zuchtvoll“ - also wurden beide Worte nicht nach den alten Gesetzen der Vokalharmonie, sondern in jüngerer Zeit ohne Umlaut gebildet (eine parallele Entwicklung ist im Nebeneinander von „trügerisch“ und „trugvoll“ zu erkennen).
 
Nietzsches Wort, daß man durch genaue Sprachbetrachtungen Unterschiede in der Weltanschauung wechselnder Perioden oder verschiedenartiger Sprachen erkennen und bewerten kann, bestätigt sich auch an dieser kleinen Beispielreihe, die zeigt, wie etwa der umlautende Wechsel eines einzigen Buchstaben etwas Wesentliches über die Geschichte und die changierende Bedeutung eines ganzen Begriffs aussagen kann.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020