Abenteuer

von Klabund

Foto © Gerd Rattei
Abenteuer

Konrad war so betrunken, daß er jeder weiblichen Gestalt, die sich in den nächtlichen Straßen zeigte, nachschoß, sie überholte, unter einer Laterne stehenblieb, um sie zu betrachten, und entsetzt zurückfuhr. Nun verfolgte er einen Backfisch, der von einer Gesellschaft kam und vom Dienstmädchen nach Hause begleitet wurde. Sie erwiderte seine Blicke kühl und neugierig. Aber plötzlich fehlte ihm der Mut, sie anzusprechen. Er konnte sich nicht aufraffen und bog mechanisch in eine Nebenstraße ein.
     Er war ein paar Schritte gegangen, als er hinter einem Parterrefenster einen roten Vorhang leuchten sah. Also mußte Licht dahinter sein.
Das ist etwas, dachte er, er wußte selbst nicht, warum, und klopfte mit dem Spazierstock leise an das Fenster. Einmal, zweimal.
Mein Gott, dachte Esther, sollte es ein Freund von Kurt sein? Sie warf sich ein Tuch um die nackten Schultern und spähte durch die Vorhangspalte. Sie sah nur einen undeutlichen Schatten. Sie öffnete das Fenster ein wenig.
„Wer ist da?
„Ich will herein“, sagte Konrad, „mach auf!“
Sie stieß das Fenster zurück und beugte sich leise hinaus. Da blickte sie in sein heißes, erregtes Gesicht, seine gierig gespannten Augen und hörte seine Stimme vibrieren. Er ließ den Stock fallen und hob beide Arme wie ein Adorant: „Du…“
     Es betörte sie: die dämmerig-lüsterne Straße, der wilde Liebhaber und die ganze prickelnde Situation: jeden Augenblick konnte Kurt hereintreten und sie ertappen.
Er saß zwar drüben im Arbeitszimmer und schrieb an einer Abhandlung, er konnte noch stundenlang schreiben - er saß oft bis zum Morgengrauen über seinen Manuskripten -, aber er konnte ebensogut jeden Augenblick die Tür öffnen.
     Sie schlich zur Tür und horchte in den Korridor.
Dann verriegelte sie vorsichtig, tappte über den Teppich zum Fenster und sagte: „Du mußt dıırchs Fenster steigen.“
Mit einem Schwung war Konrad im Zimmer.
Und als er die schöne Frau erblickte, die im Nachtkittel, mit einer spitzen Haarfrisur, schwarzen, schmalen Augen und einer blaßgelben, weichen Stirn vor ihm stand wie ein Bild aus einem japanischen Holzschnitt - da wurde er nüchtern von seiner Trunkenheit, und rasend vor Liebe.
Ächzend preßte er seinen Kopf an ihre Brust.
„Still, Liebster“, sie küßte sein Haar, machte sich zärtlich von ihm los und trippelte lauschend zur Tür. Dann griff sie rechts an die Wand und knipste das elektrische Licht aus.
     Konrad ging denselben Weg durchs Fenster, den er gekommen war, eine blaue Seidenschleife vom Halsbesatz ihres Nachtkittels in der Faust.
     „Was ist denn das?“ sagte Kurt, während er sich das Oberhemd auszog, „da fehlt ja an deinem Halskragen die blaue Schleife?“
„Ja“, sagte Esther gleichgültig und tastete an den Hals, daß ihre Fingerspitzen mit den Brüsten spielten, „die Wäscherin ist zu nachlässig. Da hat sie wieder die Schleife vergessen…“
 
Klabund