Kleine Prosa in gut einhundert Miniaturen

Oskar Ansull – „Papierstreifen”

von Michael Zeller

Papierstreifen
 
Kleine Prosa von Oskar Ansull
 
Papierstreifen“ nennt der Schriftsteller Oskar Ansull die kurzen Texte, die er sein Leben lang auf Zetteln niedergeschrieben hat, bei Gelegenheit, im Gehen & Stehen & im Sitzen. Jetzt, zu seinem siebzigsten Geburtstag, hat er sie eingesammelt und in ein Buch gepackt. Daraus ist keineswegs nicht Zetteliges geworden, sondern ein richtig schöner Band, der gut in der Hand liegt, aber doch noch leicht genug, um in eine Jackentasche zu passen, für draußen. Denn Ansulls Papierstreifen müssen nicht unbedingt am Schreibtisch gelesen werden. Ihre Lektüre paßt besser auf eine Bank im Park, zu einer Eisenbahnfahrt oder - am allerbesten natürlich - in ein Kaffeehaus. Dort hat der passionierte Café-Benutzer Ansull nicht gerade wenige seiner Zettel beschriftet (wir haben mehrfach gemeinsam in seinem Pankower Stammcafé PAULA miteinander geschwatzt und geschwiegen).
Ganz selten braucht diese „kleine Prosa” mehr als zwei Seiten, um ihrer Sache auf den Grund zu kommen – oder sie auf den Punkt zu bringen. Beides in einem. Man kann dem einzelnen Text die „Unsterblichkeit eines Tages” reservieren (ambitioniert gesprochen), er läßt sich aber auch bescheiden als „was Kleines” bezeichnen, wie Ansull das selbst tut. Als „was Kleines”, das es allerdings in sich hat.

Doch statt weiter im Allgemeinen über diese gut einhundert Miniaturen zu sprechen- ein Geflecht aus Porträts von Personen und Situationen, Reflexionen, Reisenotizen durch Städte und Landschaften, autobiographischen Momentaufnahmen, Streifzügen durch entlegene Regionen und Zeitzonen des Bücherkosmos: Ansulls „Papierstreifen” sind kurz genug, um in voller Länge zitiert werden zu können. Sie sprechen entschieden am besten für sich selbst.
 
„Weiter oben im Gestein sei sie ausgerutscht und so tief und unglücklich gefallen, daß sie auf eigener Kraft nicht mehr aufstehen und weitergehen könne, klagt sie dem großen, wie aus dem Nichts erschienenen Mann, der, Hand in der Hosentasche, auf sie herabsieht und erklärt, daß sie eben nicht allein in dieser gottverlassenen Gegend hätte klettern sollen, die Hand lässig aus der Tasche zieht und seinen Weg weitausschreitend fortsetzt.”
Diese knapp gehaltene Alltagstragödie zeigt die Webart von Ansulls Texten. Für mehr ist auf seinen Zetteln (oft nur die Papierstreifen einer Zigarettenverpackung) eben nicht Platz. Dafür aber sind die randvoll, in jedem nur denkbaren Sinn. Jedes weitere Wort könnte die schöne Traurigkeit dieser Geschichte nur zerreden.
 
Ansull kann’s aber auch noch kürzer.
„Als sie sich unbeobachtet glaubte: Sie lächelte – und nach und nach, wie aus einem Nichts herauf, stiegen und kamen ihr die Tränen.”
In ihren besten Teilen speichern diese knappen Zettelchen auf engstem Raum eine Poesie, die dem Leser eine Weite öffnet und ihn dort sich selbst überläßt.
Aller wirklich guten Dinge sind drei:
„Montag und Dienstag gehen zu Mittwoch, der mit Donnerstag und Freitag beisammen sitzt, um die Angelegenheiten von Samstag zu regeln, der mit Sonntag im Streit liegt. Denn der Sonntag hat den Samstag, so erzählen der Freitag und der Donnerstag, beim Mittwoch angeschwärzt, weiß der Dienstag vom Montag. Das geht schon die ganze Woche.”
Mit diesen seinen köstlichen, hintergründig-witzigen, melancholisch traurigen, lese- und lebenserfahrenen Papierstreifen hat Oskar Ansull seinen Lesern (jedweden Geschlechts und Tierkreiszeichens) eine große Freude gemacht. Ich wünsche seinen Papierstreifen reichlich Zuspruch. Denn es lohnt sich.
 
Oskar Ansull – „Papierstreifen”
© 2020 Wehrhahn Verlag, 240 Seiten,
22,- €
Weitere Informationen: www.wehrhahn-verlag.de