Das überschätzte Glück der Ersten

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Das überschätzte Glück der Ersten
 
Am Kilianplatz ist eine Sammelstelle, in der man Leergut entsorgen kann. Kürzlich wurde ich Zeuge, wie diese Container vom Glas befreit wurden, damit sie wieder zum Segen der Umwelt genutzt werden können. Es ist ein erhebenes Gefühl, wenn der ASP-Lkw seinen Kranaufsatz zum Schwingen bringt, um die gesammelten Erinnerungen auf der Ladefläche zum Klirren zu bringen. Wie viele leere Sektflaschen von rauschenden Feiern stammen werden, wie viele ausgekratzte Marmeladengläser von einem schönen Sonntagmorgen erzählen könnten. Allein das Zerschellen des zersplitternden Glases hat was Befreiendes und verlacht unsere Sorgen um all das Geschirr, das wir immer versuchen heile vom Tisch bis zur Spüle zu bekommen.
Ich war nicht der einzige, der diesen Einsatz genoß, auch eine Frau stand vor dem Haarstudio und schaute der Entsorgung zu. Als der Lkw den Altglasbehälter wieder abgestellt hatte, ging sie zu der Sammelstelle, bekreuzigte sich und warf drei leere Weinflaschen in den Container. „Nun bin ich mal die Erste“, flüsterte sie. Ich nickte, war aber auch besorgt.
Ich kannte mal einen Forscher, der eine neue Glühwürmchenart entdeckt hatte, und niemandem davon erzählte. Er sagte: „Jeden Tag sieht man alles zum ersten Mal. Unser Nichtwissen ist unsere größte Gabe.“ Wer sich als Erster fühlt, ist zu bedauern. Es ist so einsam auf dem Gipfel. Erst die Nachfolgenden kommen in den Genuß von Wegweisern und Imbißbuden. Ich hatte jetzt mal die Idee, eine Kasse im angeschlossenen Getränkemarkt zu nutzen, weil sie im Hauptgebäude von zu vielen in Anspruch genommen wurde. Ich sprach sogar mit dem Expedienten, weil ein Erster gütig sein muß und ein Herz haben sollte für andere, die ihn seinen Platz erobern ließen. Ich habe einen Freund, der achtet immer darauf als Erster die Tageszeitung lesen zu können. Der steht morgens früh auf, um die neuesten Nachrichten vor allen anderen aufsaugen zu können. „Auch der frisch gefallene Schnee wird durch die Schritte der Ersten entstellt. Die Wahrheit erschließt sich uns nur unberührt“, vertraute er mir an. Ich küßte mal als erster eine Frau, kurz bevor sie mich küssen wollte. Das sind natürlich Triumphe. Später wußten wir nicht mehr was wir tun sollten. Wie war es, als Gott die Welt erschuf und alle vor deren Fertigstellung vor der Tür standen? „Dürfen wir schon rein?“, fragten alle. „Natürlich“, antwortete Gott. „Nehmt Euch schon mal ein Glas und füllt es mit Wein. Seid nur vorsichtig, daß nichts zerbricht. Der Tisch wackelt noch.“
Das Glück der Genügsamen ist riesengroß und wie bedauernswert sind die Reichen, die es nicht wagen in den Tag hinein zu leben. Wie heißt es bei Lukas, 6,24: „Weh euch ihr Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen.“ Nun ja, gestern hatte ich kein Geld,  um meinem Schatz was Schönes zu kaufen, aber eigentlich brauchen wir nichts. Wir haben alles.
 
 
© 2020 Erwin Grosche