Von der Unmöglichkeit einem Sterbewunsch zu entsprechen

Die Theologin und Ethikerin Dr. Heike Baranzke über die kontroverse Diskussion des Themas Sterbehilfe im deutschen Fernsehen

von Uwe Blass

Heike Baranzke - Foto: UniService Transfer
Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, der Erkenntnisgewinn und das neu generierte Wissen sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Eine zentrale Bedeutung hat dabei der Transfer der Ergebnisse in die Öffentlichkeit, Wirtschaft, Politik und sozialen Institutionen. Mit den „Bergischen Transfergeschichten“ zeigt die Bergische Universität beispielhaft, wie sich Forscherinnen und Forscher mit ihrer Arbeit in die Region einbringen, mit anderen Partnern vernetzen und die Gesellschaft so aktiv mitgestalten.

Von der Unmöglichkeit einem Sterbewunsch
zu entsprechen

Die Theologin und Ethikerin Dr. Heike Baranzke über die kontroverse Diskussion des Themas Sterbehilfe im deutschen Fernsehen
 
„Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muß man leben“, schreibt Mascha Kaléko in ihrem 1945 verfaßten Gedicht Memento und formuliert darin in wenigen Worten, daß der Tod nicht nur Auswirkungen auf den Einzelnen, sondern immer auch auf die Anderen hat. Unsere multimediale Gesellschaft gibt uns heute jedwede Möglichkeit der Meinungsäußerung zu nahezu allen Themen. Durch Televotes beeinflussen wir sogar Entscheidungsprozesse. Wir kennen das aus Musikshows, in denen wir mit unserer Wahl einen Kandidaten in die nächste Runde bringen können, oder Gerichtssendungen, wie der Gerichtsshow „Wie würden Sie entscheiden?“, die das ZDF bis 2000 ausstrahlte. In einem ähnlichen Format präsentiert Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach seine Theaterstücke, in denen er am Ende der Vorstellung das Publikum entscheiden läßt, wie der Fall zu beurteilen ist. Sein aktuelles Stück „Gott“, daß augenblicklich auf bundesdeutschen Bühnen und in der Mediathek der ARD zu sehen ist, behandelt das Thema Sterbehilfe. Darin geht es um den fiktiven Fall eines Herrn Gärtner, der sterben will. Er ist 78 Jahre alt und psychisch wie physisch gesund. Vor drei Jahren starb seine Frau, und er will nicht mehr leben. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel beantragte er eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital, die ihm verweigert wurde. Im Stück zieht Herr Gärtner mit seinem Rechtsanwalt vor den Deutschen Ethikrat. Die Diskussion entwickelt sich anhand der Eingangsfrage: Darf ein gesunder Mensch sterben? Nach einer Stunde und 37 Minuten kann der Zuschauer per Anruf entscheiden.

Nichts für Denkfaule
 
Die Theologin und Ethikerin Dr. Heike Baranzke hält diese Form der Auseinandersetzung für viel zu kurz gegriffen und sagt: „Ich muß sagen, über solche Fragen nachzudenken und zu diskutieren, das ist nichts für Denkfaule.“ Die versierte Wissenschaftlerin mit einem Lehrauftrag für Theologische Ethik der katholischen Theologie an der Bergischen Universität findet den Ansatz des Schirachstückes durchaus interessant, welches der Autor nach der Abschaffung des Sterbehilfeparagraphen 217 im Strafgesetzbuch durch das Verfassungsgericht in diesem Jahr sogar auf einen Suizid eines gesunden Menschen zuspitzt. Dennoch betont sie, daß die Diskussion ursprünglich dem Problem der Entscheidungen am Lebensende angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts im Hinblick auf lebensverlängernde Maßnahmen beheimatet war, nämlich der daraus entspringenden Angst der Menschen, an Schläuchen zu vegetieren. Diesen Rahmen vermißt Baranzke und kritisiert die Fokussierung der Diskussion auf ein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht, welches jedem Menschen das Recht gebe, jederzeit sein Leben zu beenden. „Das halte ich für sehr problematisch“, sagt sie, „daß hier in einer Weise eine nur negative Freiheit eines jeden Menschen mit seinem Leben tun und lassen zu können, was er möchte, thematisiert wird und viele Dimensionen ausgeklammert werden.“
Die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf den Schutz des Lebens sind beide in Artikel 2 Grundgesetz garantiert. Daraus folgt: „Niemand hat eine Pflicht zu leben, es gibt keinen Zwang zu leben, das würde ich auch voll und ganz unterschreiben, aber man kann dann nicht nur von einem Akteur aus die ganze Sache thematisieren, sondern man muß dann die verschiedenen Rollen der verschiedenen Akteure betrachten“, erklärt Baranzke, „nicht nur die Rolle des Suizidwilligen, sondern auch die Rolle des Gesetzgebers, der auch das Gemeinwohl im Blick haben muß.“
 
Es gibt keine klaren Ja/Nein-Entscheidungen
 
Eine wesentliche, gängige Praxis im Verlauf von Interviews ist eine durch Ja/Nein-Entscheidungen erzwungene Eindeutigkeit, die Baranzke bei diesem Thema für unangebracht hält. Sie verweist dabei auf den Universalgelehrten Aristoteles, der schon vor über 2000 Jahren davor warnte, von der Ethik die gleiche Präzision und Eindeutigkeit zu erwarten wie von den logischen Wissenschaften. „Bei Ethischen Fragen - und das merken wir auch in der Coronadebatte - wollen alle klare Antworten haben, klare Ja-Nein-Entscheidungen. Aber jeder möchte auch in seiner spezifischen Situation berücksichtigt sein. Das ist schon ein Widerspruch in sich.“ Es gehe hier neben dem Grundrecht auf Selbstbestimmung auch um das hohe Gut des menschlichen Lebens, erklärt sie, welches ein ganz grundlegendes Rechtsgut sei, da man ohne die Voraussetzung des Lebens die anderen Grundrechte auch nicht in Anspruch nehmen könne. Dabei gehe es nicht einfach um ein logisches, sondern um ein psychologisches Problem, das daher nie mit letzter Sicherheit zu beantworten sei.
 
Sterbewunsch oder Sterbewille
 
„Nicht umsonst gibt es gerade z.B. auch im Kontext von schweren Erkrankungen, schweren Krebserkrankungen, die psychisch und physisch sehr belastend sind, seit einigen Jahren in der Medizinpsychologie verankert, ein großes Gebiet der Sterbewunschforschung.“ Da gilt es vor allem zu unterscheiden, ob ein Suizidwilliger nur einmal einen vorübergehenden Sterbewunsch äußere oder einen dauerhaften Sterbewillen habe. Es müsse differenziert werden, ob derjenige aufgrund etwaiger Depressionen, Sinnkrisen oder Schmerzen vorübergehend erschöpft sei, aber mit palliativer und psychologischer Unterstützung dann doch wieder zur Freude an seinem Leben zurückfinde oder ob jemand tatsächlich sein Leben beenden wolle. Man müsse sich in jedem Fall der Nachhaltigkeit, Begründetheit sowie der Festigkeit des Sterbewillens versichern, und nicht leichtfertig Sterbewünsche bedienen. „Wir sind hier in den empirischen Niederungen der Psychologie“, sagt Baranzke, „wir können uns in empirischen Dingen nie sicher sein, ein sicheres Urteil zu fällen. Es bleibt immer ein Rest von Ungewißheit, und dieser Rest will verantwortet werden, nicht nur von dem Suizidwilligen, sondern auch von demjenigen, dem zugemutet werden soll, beim Suizid zu assistieren.“ Das sei nicht nur eine technische, sondern eine moralische Handlung, mit der auch derjenige, der hier begleite, weiterleben können müsse. „Solche Entscheidungen zu treffen, setzen auch bei den Begleitern ein hohes Maß menschlicher Reife voraus.“
 
Eine Pflicht der Gemeinschaft und Gott gegenüber
 
Gegen einsame Selbsttötungsentscheidungen spreche auch eine immerwährende Verantwortung, die ein Mensch seinem Gegenüber habe. „Für mich als Ethikerin ist die praktische Vernunft wesentlich, die uns herausfordert, uns nicht nur unseren Bedürfnissen, Emotionen und Affekten ungesteuert hinzugeben, sondern Verantwortung für die mit uns in sozialer Beziehung stehenden Menschen zu übernehmen.“ Es werde in der Sterbediskussion immer nur die negative Freiheit behandelt, es gebe aber auch noch den positiven Freiheitsbegriff, der meine Verantwortung sowohl für meine sozialen Nahbeziehungen als auch für die Gesellschaft mit einschließe. Denn von Schirach läßt seinen Suizidwilligen mit der Forderung auftreten, daß Gesetze geändert werden, die ein Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung festschreiben. Er will also nicht nur für sich selbst einen Weg der Lebensbeendigung suchen, sondern gesetzliche Strukturen schaffen, mit denen der Staat rechtlich in die Pflicht genommen werden kann, Institutionen für Suizidassistenz zu schaffen. Das ist ein gewaltiger gesellschaftsverändernder Anspruch, der über die Bitte der Linderung einer privaten Notlage weit hinausgeht.
 
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
 
Die Auseinandersetzung mit der Selbstverantwortung eines Sterbewilligen hat auch immer mit der Frage zu tun, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Daher fragt Baranzke ganz konkret: „Geht es um die sofortige, uneingeschränkte Unterstützung eines Sterbevorhabens oder geht es um Behutsamkeit und Achtsamkeit und die individuelle Prüfung dieses hohen Gutes, das Leben heißt?“
Es mache einen großen Unterschied, ob jemand sterbenskrank und die Grenzen der palliativmedizinischen Behandlung erreicht habe, oder ob jemand einfach nur Liebeskummer habe oder depressiv sei. Daher sei auch die Stärkung des Bereichs der Suizidprävention enorm wichtig. In jedem Falle sei bei der Erfüllung eines Sterbewillens wichtig, betont die Theologin, „daß die Tatherrschaft soweit wie möglich bei dem Suizidwilligen verbleiben sollte. Daß er selber die Verantwortung übernimmt.“ Denn Tötung auf Verlangen, also durch die Hand eines Anderen, ist nach wie vor verboten.
 
Du sollst nicht töten
 
Im fünften Gebot steht: Du sollst nicht töten. Mit dem im Hebräischen nur zwei Worte umfassenden fünften Gebot läßt sich kein Recht sprechen. Es definiert auch keinen Rechtsfall. Aber es hat einen grundlegenden Wert als eine Art Grundgesetz: Der Mensch hat ein Recht auf Leben. Das fünfte Gebot ist somit dem Schutz des menschlichen Lebens verschrieben. Es steht in einem Spannungsfeld, dem sich jede Gesellschaft aussetzen muß. Wann ist eine Tötung erlaubt und wann nicht? - und ist damit auch heute noch kommentarbedürftig. Aber ist mit diesem Gebot auch gleichzeitig die Selbsttötung verboten? „Es ist ein offenes Geheimnis, daß diese starke Verurteilung des Suizids erst durch Augustinus (Augustinus von Hippo, Kirchenlehrer der Spätantike, Anm. d. Red.) in die Theologiegeschichte gekommen ist. Aber historische Verweise reichen als Rechtfertigung in der Diskussion nicht aus, sagt Baranzke.
„Wir können nicht einfach unseren zeitgeschichtlichen Horizont, unsere gesellschaftlichen Maßstäbe – auf vormoderne Zeiten anwenden. Im biblischen Horizont haben wir noch einen gottesrechtlichen Rahmen und in der Neuzeit trennen wir ja zwischen religiösen und säkularen Begründungen und da nochmal zwischen moralischen und rechtlichen Begründungen. All diese Ausdifferenzierungen sind da ja gar nicht mitgedacht“ konstatiert sie und daher müsse man sich vor anachronistischen Schnellschüssen hüten. Dieses Gebot sei in eine bedrohliche und weniger gesicherte soziale Wirklichkeit hineingesprochen worden und diente letztlich auch dem Schutz der Menschen vor gemeinen Verbrechen. „Denn für einen Täter oder einen Mörder gilt: Fühl dich nicht sicher, wenn du meinst, daß dich keiner beobachtet, Gott sieht alles.“ Das Tötungsverbot bezeuge vor allem die hohe Wertschätzung des Lebens in einer Zeit, die noch keine Menschenrechte gekannt habe, betont Baranzke.
„Insofern missfiel mir auch der theologische Part, den von Schirach dem Bischof in den Mund gelegt hat: `Alles Leben ist Leiden´. Das ist nicht das Evangelium! Das ist Schopenhauer, aber nicht das Evangelium. Das war schlechte Theologie! Aber es folgt daraus, wenn es wirklich darum geht, daß jemand seinem Leben ein Ende setzen will, er doch auch irgendwo der Gemeinschaft und auch uns als Gesellschaft gegenüber, eigentlich in der Pflicht wäre, die Gründe darzulegen, weil wir auch als Gesellschaft damit weiterleben müssen – allemal, wenn er dafür Gesetzesänderungen einfordert.“ In theologischer Hinsicht sei der Mensch zudem ein moralisches Subjekt in Verantwortung vor Gott. „Das Evangelium ist die frohe Botschaft. Wir glauben an einen guten Gott, der ein gutes Leben für seine Geschöpfe will. Wenn wir von einem Gott ausgehen, der uns ein gelingendes Leben gönnt und uns dabei schon immer vorweg ohne Leistungsanforderung liebt – wir sind immer schon geliebt und akzeptiert und als Solche stehen wir vor Gott – dann habe ich, glaube ich, eine andere Haltung zu diesem Leben, eine Haltung, die es ermöglicht, aus Dankbarkeit für all das, was ich mir nicht verdient habe, zu leben und es dafür zu nutzen, nach Kräften Gutes in die Welt zu bringen.“
 
Freiwillige, unfreiwillige und nicht freiwillige Sterbehilfe
 
Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Sterbehilfe gibt Baranzke noch zu bedenken, daß es auch noch eine dritte Variante, nämlich die der nicht freiwilligen Sterbehilfe gebe, die solche Situationen beträfen, wo leidende Menschen im Hinblick auf lebensverkürzende Maßnahmen nicht befragt würden. „Dieser Bereich der sogenannten Mitleidstötungen ist ein besorgniserregender Punkt, der auch immer wieder beobachtet wird in Bezug auf die Euthanasiepraxis in den Niederlanden“ erklärt sie, „hier geht es um Fälle, wo z.B. zum Behandlungsabbruch gegriffen wurde, ohne, daß die Betroffenen vorher gefragt worden sind. Wenn man das Selbstbestimmungsrecht in der Frage der Lebensendeentscheidungen so hoch halten will, dann ist das ein neuralgischer Punkt und das ist seit Jahren in einer Anzahl von mehreren hundert Fällen pro Jahr zu beobachten. Das muß zu denken geben.“
 
Wem gehört unser Leben?
 
Wem gehört also unser Leben? Gehört es einem Gott? Gehört es dem Staat? Gehört es der Gesellschaft, der Familie, den Freunden? Oder gehört es nur uns selbst.
Heike Baranzke würde bei der Abstimmung in Ferdinand von Schirachs Stück „Gott“ sowohl als Theologin als auch als Ethikerin eindeutig mit Nein stimmen, „weil der neuralgische Punkt in diesem fiktiven Fall der ist, daß Herr Gärtner auf der einen Seite die Darlegung seiner Gründe verweigert und auf der anderen Seite es ihm nicht genügt, für sich selbst einen Ausweg aus dem Leben zu suchen. Wenn er von der Gesellschaft fordert, daß der Gesetzgeber diese Strukturen einrichten soll, dann ist er gegenüber der Gemeinschaft auch begründungspflichtig.“
 
Jede Urteilsbildung ist anstrengend
 
Jeder hat ein Recht, seine Meinung zu äußern, nur sollten genügend Hintergrundinformationen vorliegen, um diese Meinung auch vertreten zu können.
„Wir sind alle als moralische Subjekte auch gefordert zu einer Urteilsbildung, die aber dann entsprechend anstrengend ist, weil sie keine schnellen Ja/Nein-Antworten aus Mitleid mit einem Einzelnen zuläßt. Denn jedes moralische Urteil über einen Einzelfall hat ja die Kehrseite, sich fragen lassen zu müssen, ob es auch verallgemeinerbar ist, ob daraus also ein Gesetz gemacht werden könnte, das nun für alle in der Gesellschaft gelten soll und wie denn dann der Lebensschutz garantiert werden kann für jene, die vielleicht behebbare depressive Verstimmungen, nicht aber einen belastbaren Sterbewillen äußern. Verantwortung habe ich daher nicht erst beim Reichen des Schierlingsbechers, sondern schon, wenn ich ein ethisches Urteil fälle. Diese Dimension ist vielen Diskutanten nicht ganz klar. Von denen, die mitbestimmen wollen, fordere ich dann mehr ein als spontanes Mitleid, denn eine gesellschaftlich tragfähige Beurteilung ist extrem anstrengend.“
 
Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muß man leben.
 
Uwe Blass
 
Dr. Heike Baranzke ist Lehrbeauftragte für Theologische Ethik der katholischen Theologie in der Fakultät für geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.