Amour fou – oder große Liebe?

Claude Anet – „Ariane“

von Frank Becker

Amour fou – oder große Liebe?
 
Das brillante Psychogramm einer Seele
 
Die 1917 begonnene russische Revolution hat die Gesellschaftsordnung des Zarenreichs grundlegend verändert, und doch leben bestimmte feudale Kreise noch so, als habe es diese politischen Umwälzungen nie gegeben. Es gibt nach wie vor eine überkommene Klassenordnung, in deren gebildeten, wohlhabenden oberen Rängen sich der Leser 1920 in Claude Anets Roman „Ariane, jeune fille russe“ findet. Anet, der den Umbruch als Zeitzeuge miterlebt hat und darin den Umbruch und die Bolschewiken mit keinem Wort erwähnt, schrieb 1918/19 seinen durch die freimütige Behandlung des sexuellen Emanzipationsgedankens umstrittenen Gesellschaftsroman, der mit „Liebe am Nachmittag“ ebenso mißverständlich übersetzt ist wie er bei seinem Erscheinen 1920 (in Deutschland 1924) in der öffentlichen Diskussion als anstößig empfunden wurde.
Seine zentrale Figur, die anfangs 16jährige Schülerin, schließlich 18jährige Studentin Ariane Nikolajewna lernt, in freiem Geist erzogen und aufgewachsen, von den Frauen ihrer Familie, ihrer Mutter und der Tante, bei der sie aufwächst, neben feinen Manieren auch die Emanzipation im Umgang mit Männer, vor allem in der Liebe. Man lebt scheinbar ohne Sorgen in einer leichtfertigen Gesellschaft kultivierter Konversation in Salons, erlesener Umgangsformen und der Praktizierung der freien Entscheidung in der Partnerwahl. Liebschaften neben der festen Beziehung sind erlaubt und geduldet, die entsprechenden Geliebten ebenso. Das Gerüst aber, auf dem das alles ruht, ist auf den hergebrachten Prinzipien von Macht aufgebaut. Wer Geld hat, wer schön ist, hat Macht. Alles ist Kampf der Geschlechter.
Es fällt dem verwirrend attraktiven Mädchen Ariane nicht schwer, der Männerwelt den Kopf zu verdrehen und schon bald liegen ihr Studenten, Offiziere und reiche Geschäftsleute zu Füßen. Sie spielt mit ihnen – bis Konstantin Michail auf den Plan tritt, ein reicher, weltläufiger Geschäftsmann (wir erfahren nicht, welche Geschäfte er betreibt und auch nicht sei Alter), der, wie sie in ihrer Kindheit, weit gereist und gebildet ist. Aber er ist wohl deutlich älter als die verwöhnte Kindfrau – die er wie es in Zeiten der unemanzipierten Bourgeoisie üblich auch stets als „Kind“ anredet – und ein Mann, dem Eroberungen und Affären ohne Verpflichtung offenbar leicht von der Hand gehen. Dieser Mann trifft nun auf eine Lolita, die es bereits mit 16 Jahren für moralisch vertretbar hält, eigene Affären für ihren Lebensunterhalt einzugehen. Es entspinnt sich eine Amour fou, in der beide höchste Genüsse erleben, aber auch Zerwürfnisse, Lügen, Irrtümer und gegenseitige Zerstörung. In feiner Sprache, elegantem Dialog und Streitgespräch entwickelt Anet in seinem durchaus erotischen, nie aber expliziten Roman ein brillantes Psychogramm der widersprüchlichen Seele des zarten Mädchens Ariane, indem er den starken Konstantin merkwürdig blaß bleiben läßt. Was beide Figuren antreibt, ist der Hunger nach Liebe, was sie hemmt und immer wieder in Affären voneinander entfernt, ist das gleichzeitige Verlangen nach Freiheit, die Angst, sich vielleicht doch zu verlieben.
„Ariane“ ist eleganter Genuß mit wunderbaren Situations- und Bildbeschreibungen und sprühenden Konservationen. Wie bei seiner Erstveröffentlichung vor 100 Jahren lesenswert, wenn man die historischen Umstände außer Acht läßt. In fast sämtliche Literaturlexika übrigens ist das Buch bis heute nicht aufgenommen worden.
 
Claude Anet – „Ariane“ (Liebe am Nachmittag)
Originaltitel: „Ariane, jeune fille russe“ - Roman
Aus dem Französischen neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Kristian Wachinger
© 2021 Dörlemann Verlag, 272 Seiten, Leinen mit Deckelschild, Lesebändchen  -  ISBN: 9783038200789
23,- € (D) / 23,70 € (A) / 27,50 sFr
Als eBook erhältlich - eBook ISBN 9783038209782
€ 16.99
 
Weitere Informationen: https://doerlemann.com