Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken

Aus meinem Corona-Logbuch, Folge 16

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Michael Zeller
 
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
 
Aus meinem Corona-Logbuch, Folge 16
 
Lange habe ich gerungen mit mir, ob ich der Einladung folgen solle. Die Galerie in meiner Stadt, deren Austellungen ich, wenn irgend möglich, gern besuche, hatte eingeladen. „Wir richten uns nach der aktuellen Corona-Verordnung des Landes NRW“, hieß es auf der Karte, man möge sich bitte vorher telefonisch anmelden. Es reizte mich sehr, endlich wieder einmal Kunst zu sehen, richtige, leibhaftige Kunst – nicht hinter Glas. Und gehörte es sich nicht auch, dem Galeristen ein Zeichen der Unterstützung zu geben, gerade jetzt, und ihm Dank zu sagen für den Mut, diese Ausstellung zu wagen? Vom Kopf her gesehen, schien alles klar zu sein. Doch in diese ehrenwerten und vernünftigen Überlegungen schob sich, von der Seite her, ein gewaltiger, schwarzer Klotz, vollkommen amorph, ohne jede Kontur: der dicke Batzen schierer Angst.
 
Muß es denn wirklich sein? Waren die letzten Ausstellungen des Galeristen nicht ein bißchen beliebig gewesen? Der Name der Malerin – nie gehört … Bei mir brach das Vernünfteln aus. Der Kopf wird ausgesprochen  erfinderisch, wenn er tausend Gründe zusammensucht, um etwas nicht zu dürfen, was er gar nicht will.  
 
Tagelang schob ich den Termin vor mir her, mit schlechtem Gewissen. Ein Zufall brachte die Entscheidung, vor der ich mich gedrückt hatte. Freunde besuchten mich, streng portioniert „nach der aktuellen Corona-Verordnung des Landes NRW“ (siehe oben), die wollten später in die Ausstellung gehen, auf jeden Fall. Schlicht und einfach, weil sie mit der Malerin, deren Werke gezeigt werden, befreundet sind. Na ja … Konnte ich da noch kneifen? Nein, ich ging mit.
 
In den beiden großen Ausstellungsräumen verloren sich jeweils zwei, drei Leutchen. Die Fenster der ehemaligen Fabrik weit aufgerissen. Das interessierte mich als erstes, bevor ich auch nur ein Werk gesehen hatte: das Gelände zu sichern. Bis ich dann einem dieser Bilder hier ins Gesicht sah! Wie vor den Kopf geschlagen stand ich vor der großen Leinwand. Die Farben leuchteten mich an, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen zu haben glaubte. Fast ohne meinen Willen zog es mich von einem Bild zum nächsten, keine Fragen dazu beschwerten meinen Kopf. Ich stand einfach davor, blieb angewurzelt stehen, und staunte, genoß stumm diese Schönheit von Form & Farbe.  Ein Bild schöner als das andere. „Einfach schön“ – mehr fiel mir nicht ein. Jedes Bild hing mit einer solchen Selbstverständlichkeit an der Wand, kein einziges, das mich nichts anging. Vergleiche mit anderen Künstlern kamen mir auch nicht von fern in den Sinn. Die Künstlerin, eine junge Frau Mitte Zwanzig, beobachtete mich. Ich mußte auf sie zugehen, obwohl ich ihr nichts anderes zu sagen hatte, als daß mir ihre Bilder gefielen, sie seien wunderschön … Wie ein  jugendlicher Schwärmer rang ich um Worte, aber mir fiel partout nichts Gescheites ein.
 
Langsam mißtraute ich mir selbst in meiner Begeisterung, dieser Sprachlosigkeit. Ich rechnete nach und kam auf elf Monate. Geschlagene elf Monate hatte ich kein „richtiges“ Bild mehr gesehen. Es wäre übertrieben zu behaupten, ich hätte in dieser Zeit Entzugsschmerzen gespürt. Und doch muß ich vollkommen ausgetrocknet gewesen sein wie vom langen Wandern durch die Wüste. Aber wenn Seele und Geist eines Menschen verdursten, hat das nicht die drastischen Folgen wie beim Körper. Der verdurstet einfach, ziemlich bald sogar. Doch bei Seele und Geist geschieht das Absterben unsichtbar. Äußerlich merkt man wenig bis nichts. Der Mensch funktioniert, als sei nichts geschehen. Er mag innerlich längst gestorben sein und zieht weiter seine Kreise.
 
Geistig-seelisches Verdursten – die Lektion  hat mich dieser Galeriebesuch gelehrt. Ich konnte die Ausstellung natürlich nicht verlassen, ohne mich bei der jungen Malerin zu bedanken, mit den  Augen mehr als mit Worten. Gar zu gerne hätte ich in ihr Gesicht ohne Maske geschaut.
 
Auf dem Hof draußen warteten zwei andere Besucher, daß sie rein konnten. Und ein Vogel übte für den Frühling. 
 
 
© 2021 Michael Zeller für die Musenblätter