Aus dem Tagebuch eines Riesen

von Julius Stettenheim

Aus dem Tagebuch eines Riesen
 
Riesen sind gewöhnlich schreibfaul. Der große Weg, den die Hand mit der Feder vom Papier bis zum Tintenfaß und vom Tintenfaß wieder bis zum Papier zurückzulegen hat, ermüdet den Arm. Daher findet der Autographensammler höchst selten Briefe und andere Schriftstücke von Riesen. Es existieren viele Riesenbriefe, aber nur sehr wenige Briefe von Riesen. Das ist sehr bedauerlich.
Mit Vergnügen ergriff ich daher die Gelegenheit, die Bekanntschaft eines Herrn zu machen, des größten Menschen der Welt, der vor kurzem in Castans Panoptikum eingetroffen war. Ich kann leider von dem Gespräch, das ich mit dem Herrn führte, wenig mitteilen. Man könnte den Genannten auch einen Eiffelturmmenschen nennen; er sprach so Weit von mir entfernt, daß nur bei ganz günstiger Windrichtung ein Wort an mein Ohr heruntergelangte. Mir war, als teilte mir jemand aus der dritten Etage auf die Straße etwas mit. Etwas hatte ich aber sehr deutlich gehört: Der größte Mensch führt ein Tagebuch, das einen Folianten bildet, den er immer in der Westentasche trägt. Ich war begeistert, als er mir gestattete, einen Blick in seine Notizen zu werfen. Ich hätte fast sein Knie an mein Herz gedrückt! Und nun zu den Tagebuch-Notizen:
18. August. Am Bahnhof mußte ich in eine geschlossene Autodroschke steigen, das tue ich nie wieder. Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich gesessen habe. Von der Taille an lief mein Oberkörper an der Decke des Wagens hin, meinen Kopf ließ ich dann herunterhängen.
Bei meinem Handgepäck wat ein Köfferchen von höchstens 100 Kilo Schwere, aber der Chauffeur meinte, das sei kein Handgepäck, und nahm das winzige Ding zu sich auf den Vordersitz. Am Ziel der Fahrt angelangt, berechnete mir der Fahrer die Fahrt zu drei Personen - er kann von Glück sagen, daß ich ihn nicht knickte!
Abends. Gleich nach meinem Eintreffen im Panoptikum kam ein Gelehrter. Als er meinen Schädel messen wollte, nahm ich den Herrn auf den Arm. Es wurde ihm aber bald so schwindlig, daß ich ihn wieder ins Tal hinuntersetzen mußte. Als er dann sagte, ich stelle manchen in den Schatten, antwortete ich: Aber nur in meinen eigenen, denn andere Schatten von solcher Größe kenne ich nicht.
19. August. Heute wurde in dem Raum, in dem ich mich im allgemeinen aufzuhalten pflege, ein Gerüst aufgeschlagen. Als ich den Direktor fragte, ob ich gestrichen werden sollte, sagte er: Nein, aber gemalt. Nach dem Frühstück. Es gab nicht viel. Ich bekam sechs Wiener Rostbraten, zweimal Eisbein mit Sauerkraut und schließlich Hammelbraten. Ich sollte mir wohl den Appetit zum Mittagessen nicht verderben. Jetzt habe ich von alledem einen Riesenhunger. Die Leute scheinen zu glauben, unsereiner könne von der Luft in den Mund leben.
Heute waren die ersten Zuschauer gekommen. Lauter Zwerge, die die Augen aufrissen und Genickschmerzen vom Hinaufsehen bekamen. Einer wünschte sich zu Weihnachten meine Weste, weil er sich daraus einen Umhangmantel machen lassen wollte. Ein anderer behauptete: Den haben gewiß zwei Störche gebracht. Ein Dritter, wahrscheinlich ein begeisterter Bergsteiger, fragte mich, ob ich gleichfalls mit ewigem Schnee bedeckt sei. „Wenn man dem etwas ins Ohr sagen will“, meinte, ein Vierter, muß man sich anseilen lassen.“ So platzten die Geister aufeinander.
20. August. Das Schlimmste ist, daß man mich nicht ausgehen läßt. Ich habe Panoptikum-Arrest, sitze gewissermaßen im Castan. Das tut mir heute besonders leid, denn ich bin zu einem Rendezvous eingeladen, sogar schriftlich. „Sie sind bestimmt kein Frauenhasser, und darum bitte ich Sie, heute abend nach dem Potsdamer Platz vor Bellevue zu kommen. Ich bin natürlich kleiner als Sie, aber mein Herz ist dem Ihrigen gewachsen, denn ich habe auch ein großes Herz. Auf Wiedersehen!“ - Ich mußte die Dame im Stich lassen, aber zu meinem Trost meinte der Direktor, daß sie einen Kürzeren, der ihr Abendbrot bezahlt, schon gezogen haben wird.
23.August. Heute spürte ich einmal wieder, daß ich ein großer Mann geworden bin: Ich wurde interviewt. Bei mir erschien ein fast unsichtbarer Herr; er sagte: „Ich bin von meiner Redaktion aufgefordert, Sie zu erklimmen, und ersuche Sie also, mich über Ihr Leben und Ihre Gewohnheiten zu unterrichten.“ Er stellte dann viele Fragen an mich:
„Sind Sie immer' so groß gewesen wie jetzt?“'
..Nein. Ich bin viel kleiner geboren.“
„Wollen Sie sich nicht verheiraten?“
„Wahrscheinlich nicht. Ich weiß, daß die kleinste Frau dem größten Riesen über den Kopf wächst.“
„Gefällt Ihnen Berlin?“
„Berlin gleicht mir, es kann sich sehen lassen.“
„Was tun Sie, wenn Sie in ein Hotel mit kurzen Betten kommen?“
„Ich schlafe schlecht.“
„Wann stehen Sie morgens auf?“
„Um sieben Uhr. Sie dachten Wohl, ich sei ein Langschläfer? Nein, ich sehe nur so aus.“
Er fragte noch Verschiedenes, bis die Vorstellung begann und ich ihm sagte, daß er jetzt eine Eintrittskarte lösen müsse. Da ging er, nicht aber, um ein Billett zu lösen. In Zukunft empfange ich keine Interviewer mehr, denn sonst gibt sich jeder Zuschauer für einen Interviewer aus und sieht mich umsonst. Die Menschen sind ja so klein!
Hier enden die Notizen des Riesen. Man merkt es ihnen an, daß auch ein Riese nur ein Mensch ist. Es ist eben dafür gesorgt, daß die Riesen nicht in den Himmel wachsen.