Der Kuß im Tunnel

von Julius Stettenheim

Kurt Klamann pinx.
Der Kuß im Tunnel
 
Auf der Fahrt an den Rhein saß neben mir in einem Abteil des Zuges Fräulein Martina, blond, mit hellblauen Augen. Wir waren bekannt geworden, wie man auf Reisen bekannt wird. Ich bin als Passagier nicht gerade mitteilsam, aber dieses Fräulein Martina gefiel mir. Ich hatte ihr, weil ich früher als sie eingestiegen war, die kleine Reisetasche, mit der sie vor meinem Wagen erschien, aus der Hand genommen, dann, als sich der Zug in Bewegung setzte, ihr meinen Eckplatz überlassen. Ein Lob des angenehmen Reisewetters, na, und so gab ein Wort das andere, bis wir schnell bei interessanteren Themen angelangt waren.
Fräulein Martina sprach angenehm; sie war nicht mehr jung, aber wenn sie lachte, dann lachte sie ausgiebig, und über ihr Gesicht huschte eine vergnügliche Schar heiterer Fältchen. Das ermunterte mich zu allerlei Späßen, die ihr sehr gefielen. Wer so lacht wie dieses Fräulein Martina, macht aus jedem Menschen, der unterhalten kann, einen Humoristen. Sie hörte auch meisterhaft zu. Man trifft ja selten wirklich gute Hörerinnen.
Sie reiste nicht allein. In der anderen Hälfte des Wagens, die vor uns lag, saßen ein Ehepaar, ihnen gegenüber ihr hübsches Töchterchen, etwas schüchtern, ein dem Schulalter entschlüpftes brünettes Mädchen. Es waren Verwandte Fräulein Martinas, die, als ich sie bat, sie solle doch nun auch etwas erzählen, leise sagte, der Mann trage den nützlichen Namen Fenchel und bilde sich ein, der weiseste Erdenbewohner zu sein, der, wenn er wolle - er wolle nur nicht immer -, das Gras wachsen hören könne. Auch glaube er steif und fest, prophetischen Geist zu besitzen. Frau Fenchel bewundere an ihm diese Eigenschaften und wage nicht, etwas zu erwidern, wenn ihr Gatte z. B. behaupte, der junge Mann, der neben der Tochter saß, sei deshalb kein Schwiegersohn für ihn, weil er sich in der Ehe sicherlich als Don Juan entpuppen würde, der bei den Damen mehr Glück als der in der Oper hätte. Der Frieden des häuslichen Herdes müsse deshalb mit Sicherheit zugrunde gehen. Der junge Mann - er hieß Taube, Bernhard Taube - sah aber wirklich nicht so aus, als sei er fähig, Herrn Fenchels Prophezeiung zu bewahrheiten. Er war genauso schüchtern wie Fräulein Rosemarie Fenchel, die er anhimmelte. Man sah es. Das Kühnste, was er bisher vollbrachte, war, daß er, als ihm Herr Fenchel den Entschluß kundtat, nächsten Mittwoch mit Frau und Tochter an den Rhein zu fahren, sich ermutigte und ausrief: „Das ist ein merkwürdiger Zufall! Auch ich muß am nächsten Mittwoch an den Rhein. Wenn Sie erlauben, schließe ich mich Ihnen an.“
Herrn Fenchel war das nicht willkommen gewesen. Erstens hätte er die Reise des jungen Mannes mit Hilfe seines berühmten Prophetenblickes vorhersehen müssen, zweitens fürchtete er, daß seiner Rosemarie diese Reisegesellschaft mehr gefallen könne, als ihm angenehm sei.
Darin hatte er vollkommen recht. Rosemarie war glücklich, ganz wie Herr Taube, obwohl die jungen Leute es bisher nur zu Andeutungen durch Frau Fenchel an die Adresse des Hauspascha gebracht hatten, der dann immer im Hinblick auf die Don-Juan-Zukunft Herrn Taubes ausweichend erklärte, daß Rosemarie zu jung und Herr Taube nicht alt genug sei. Fräulein Martina bedauerte die beiden jungen Leute. Sie unterstützte diese Liebe, das merkte man ihr an; es ärgerte sie, daß Herr Fenchel die zwei auseinanderhielt. Sie hatte nicht das oft lästige Bestreben, Heiraten zu stiften, wie es sich bei Mädchen, die über die ersten Jugendtorheiten und über die letzten Jugendweisheiten hinaus sind, häufig findet; sie hatte Rosemarie gern und wollte einfach für sie das Beste. Und das erschien ihr diese Heirat.
Nun hatte unser Zug eine Reihe von Tunnels erreicht. Dann und wann trat völlige Dunkelheit ein. Fräulein Martina schien etwas in ihrer Handtasche zu suchen und streifte dazu in einem Tunnel einen ihrer Handschuhe ab. Als es. wieder hell wurde - die Farbe dieser Hand zu beschreiben, wage ich nicht. Die schwarzen Lettern eignen sich am wenigsten zu solch einer Schilderung. Und wie fest und schlank die Hand war! Ich wettete mit mir, daß sie ganz in meiner Hand verschwinden würde, wenn Fräulein Martina sie zu solchem Experiment hergäbe. Das fiel ihr gar nicht ein. Aber ich hatte nun einmal mit mir gewettet. Dem Mutigen gehört die Hand, sagte ich mir. Und da tobte auch schon wieder der Zug mit einem Aufschrei der Lokomotive in einen Tunnel hinein. Es galt, rasch zu handeln. Finsternis umgab uns, die Tunnelnacht ist keines Menschen Feind, sie gab mir einen Gedanken und als Zugabe den Mut, ihn auszuführen. Ich sah die Hand Martinas im Dunkeln leuchten, ich ergriff sie, und - - -
„Was war das?“ rief Herr Fenchel.
„Ein Kuß“, sagte die kundige Gattin.
Der Zug flog aus dem Tunnel heraus, es war wieder hell.
Die Fahrgäste sahen sich um, als hätten sie statt eines Kusses einen Schuß gehört, und suchten nun den Selbstmörder. Ich sah mich mit ähnlicher Neugier um. Verschiedentlich wurde gekichert. Im ganzen herrschte eine abwartende Pause. Fräulein Martina kramte in ihrer Reisetasche und hielt den Kopf tief gesenkt. Jedenfalls freute ich mich, daß ich in dem sonst freudelosen Tunnel ein wenn auch kurzes Glück gesucht und gefunden hatte. Fräulein Rosemarie und Herr Taube saßen da und sahen erschrocken zu Boden. Ein Kuß, besonders einer, den man für einen echten hält, erfüllt Verliebte, von denen er gehört wird; immer mit Gedanken teils des Neides, teils der Zustimmung. Den beiden gegenüber saß Herr Fenchel und sah sie ernst und mit kopfschüttelndem Erstaunen an. Sein Hellsehen hatte ihm sofort verraten, daß seine Tochter geküßt worden war - im Tunnel! Und vernehmlich, ja geradezu schallend. Hätte er sprechen dürfen - aber wie durfte er das, ohne seine Tochter zu vernichten -, würde er eine der wortreichsten Strafpredigten seines Lebens gehalten haben. So beschränkte er sich auf ernste und vorwurfsvolle Blicke und sah dann und wann seine Frau vielsagend an.
Die übrige Reisegesellschaft erholte sich erst allmählich.
Die nächste Station brachte einen längeren Aufenthalt. Wir stiegen aus. Dabei hörte ich, wie ein Reisender zum anderen sagte: „Donnerwetter!“ Der sprach natürlich von dem Kuß. „Reizend!“ sagte eine Dame lachend zu ihrem Begleiter. Dasselbe Thema.
„Ich weiß längst, was hier zu tun ist!“ sagte Herr Fenchel zu seiner Frau und Fräulein Martina, die zusammen ausgestiegen waren. „Martina, du wirst mich verstehen, wenn ich dir hiermit eröffne, daß der Kuß im Tunnel -“ „Ich wußte und weiß alles“, entgegnete Fräulein Martina. „Der Kuß war das Signal zu einem Entschluß, wie er von jedem Mann deines Verstandes gefaßt werden muß; und dieser Kuß kann nicht übersehen werden, ohne daß er dich mit einer schweren Verantwortung belastet“, setzte sie energisch hinzu. „Es war ein Riesenkuß, ein Kuß, an dem sich nicht drehen noch deuteln läßt. Es gibt Küsse, die schwerwiegende Tatsachen sind, und der im Tunnel gehört zu dieser Sorte. Wie können vier junge unerfahrene Lippen nur einen solchen Kuß zustande bringen! Ich höre ihn noch knallen!“
„Also auch du, Martina, hast es bemerkt“, sagte Herr Fenchel wichtig. „Meine Frau hat natürlich keine Ahnung. Und wie oft habe ich ihr gesagt, in diesem Taube steckt ein Don Juan! Zu solchen Wiederholungen ist jetzt keine Zeit mehr; es muß etwas geschehen, und zwar auf der Stelle!" Und damit ergriff Herr Fenchel die Hand seiner Frau und winkte seiner Tochter samt Herrn Taube, ihm zu folgen. Das Quartett verschwand im Wartesaal, der leer war.
„Aber - mein Fräulein“, sagte ich zu Martina, die den Verschwindenden lachend nachgesehen hatte und nun an meine Seite getreten war.
„Ich verwerte den Handkuß aufs beste“, sagte Martina. „Ein Handkuß ist bedeutungslos, aber ich versuche, etwas wirklich aus ihm zu machen. Ich bestärke Herrn Fenchel in seiner vermeintlichen Allwissenheit und verschaffe meiner Rosemarie einen Mann, den sie liebt. Ist das ein schlechter Streich?“ „Aber mein Eigentum, mein lieber, schöner Handkuß!“ rief ich.
„Bilden Sie sich nichts darauf ein, Handküsse sind ein Nichts, eine Höflichkeitsform, und als etwas anderes habe ich Ihren Handkuß nicht genommen. Wissen Sie, warum ich ledig geblieben bin? Mein Vater war ein sehr strenger Mann, obwohl er mich herzlich liebte; eines Tages sah er, daß mir ein Jugendfreund ganz heimlich die Hand küßte. Da gab's eine Auseinandersetzung mit dem allzu Kühnen, und er mied danach unser Haus. Und da er kein Romanheld war - blieb ich sitzen. Nun habe ich mich dadurch am Schicksal gerächt, daß ich mit einem späteren Handkuß gleich nach dem Empfang zwei Liebende glücklich machte. Ist das keine edle Rache?“ Sie sagte es heiter, nachdem sie einen Augenblick ernst geworden war.
Die vier erschienen wieder. „Martina, was sagte ich dir immer?“ meinte Herr Fenchel. „Die beiden werden noch ein Paar. Jetzt sind sie's - seit fünf Minuten.“
Rosemarie wurde von Fräulein Martina umarmt. Aber Herr Taube nahm seine Braut gleich an sich und küßte sie. Das fällt ja auf einem Bahnsteig nicht sehr auf. Herr Fenchel meinte dazu noch halb streng, halb schlau; „So, mein lieber Taube, jetzt brauchst du nicht mehr zu warten, bis ein Tunnel kommt, wenn du küssen willst!“
Als alles wieder im Abteil saß, sagte Frau Fenchel zu Martina: „Weißt du, an dem Kuß sind die beiden unschuldig. Du hättest sehen müssen, wie sie versuchten, den Verdacht von sich zu weisen, aber es nützte den Angeklagten alles nichts, der Alte verbot ihnen einfach, weiter zu sprechen, er wisse alles. Na, es freut mich, daß sie sich haben.“
Martina sagte eifrig: „Du bist ja gut und auch klug, wenn du mit dem Paar leugnest, aber unter vier Augen brauchen wir doch nicht zu bestreiten; daß sie sich geküßt haben oder daß Herr Taube unsere Rose geküßt' hat! Motto: Sah ein Knab ein Röslein stehn. Jetzt ist es ja einerlei und alles gut.“
„Endlich!“ sagte Frau Fenchel und sah ihre Tochter glücklich an; die hatte nur noch Augen und Ohren für ihren Taube.
Auf der nächsten Station verließ ich den Zug. Ich war froh, so ungern ich mich von Martina trennte; denn es gibt für einen Dritten wenig Unerquicklicheres als einen Aufenthalt in der Nähe zweier frisch Verlobter. Ich verabschiedete mich von Fräulein Martina, die mir freundlich die schlanke Hand reichte.
Mein Handkuß erklang ähnlich wieder Tunnel-Kuß. Aber Papa Fenchel merkte nichts. Nur Fräulein Martina lächelte.
Wo mag sie, die mir so sympathisch geworden war, jetzt sein? Vielleicht erinnert sie sich an mich, wenn ihr diese Geschichte vor die hellblauen Augen kommt.