„Unsre Glock hat elf geschlagen“

Von den Merkwürdigkeiten und Bedeutungen einer Zahl

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Unsre Glock hat elf geschlagen“
 
Von den Merkwürdigkeiten und Bedeutungen einer Zahl
 
Von Heinz Rölleke
 
Die Elf ist eine Primzahl. Ihr Name bezeichnet ursprünglich, daß Eins und Zehn addiert werden oder daß nach der ersten Stufe des Dezimalsystems Eins übrig bleibt: altgriechisch έν-δεκα (EN-DEKA: 1+10). lateinisch UN-DECIM (1+10), althochdeutsch (seit dem 9. Jahrhundert schriftlich belegt) EIN-LIF (Eins bleibt übrig, wenn man zunächst nur bis Zehn zählt), mittelhochdeutsch EI-LEF, neuhochdeutsch (bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlich) EILF, englisch E-LEVEN (Eins bleibt übrig), italienisch UN-DICI (1+10).
 
Wenn man von den ersten Zielzahlen des Dezimal- und des Duodezimalsystems ausgeht, nämlich 10 und 12, so über- oder unterschreitet die Elf beide Zahlen, scheint also immer schon etwas aus der Reihe zu fallen. Für die mittelalterliche Kirche bedeutete die Elf eine (sündhafte) Überschreitung der gottgegebenen Gesetze der Zehn Gebote (wie es noch heute die flapsige Formulierung eines elften Gebots erkennen läßt: „Du sollst Dich - bei einem Vergehen, bei einer Sünde - nicht erwischen lassen“). Die Elf überschreitet die Zehn des Dekalogs (und bleibt unter der Zwölfzahl der Apostel). Sie bedeutet eine transgressio legis, die Sünde der Gesetzesüberschreitung. Die Zahl Elf wird also wegen ihrer Stellung in der Zahlenreihe immer ad malam partem (negativ) gedeutet; damit liegt ihr Sinn so fest wie bei kaum einer anderen Zahl: Sie steht schlechthin für die Sünde. Bei Schiller bringt es Seni, der Astrologe Wallensteins, auf den Punkt:
 
                   Eilf ist Sünde.
                   Eilfe überschreitet
                   Die zehn Gebote (Die Piccolomini II.1)
 
Da die Sünder als Narren galten, die so töricht waren, ihr Ewiges Seelenheil zu verspielen, führte man sie einmal im Jahr vor Beginn der Fastenzeit in ihrer Tollheit und mit ihren typischen Lastern vor. Diese sollten dann ab Aschermittwoch abgebüßt werden. Im berühmten „Narrenschiff“ aus dem Jahr 1494 bezeichnet Sebastian Brant den Karneval als „civitas diaboli“, die anschließende Fastenzeit als „civitas dei“. Das moderne Rosenmontagstreiben (das Wort ist von „rasen“, sinnverwirrt einher rennen, abgeleitet und wurde erst sehr viel später volksetymologisch auf die Blumen bezogen). Die Saison der (Karnevals)Narren begann daher alljährlich am 11.11., sozusagen unter dem doppelten Signum der Narrenzahl, die man in neueren Zeiten noch potenziert hat, indem der Startschuß zur närrischen Saison auf 11 Uhr 11 festgesetzt wurde (gegenwärtig sollen Karnevalsveranstaltungen und -umzüge immer elf Minuten nach der vollen Stundenzahl beginnen). Wenig wahrscheinlich ist die Annahme, daß sich die Vorliebe der Narren für die Elf aus der Abkürzung der Französischen Revolutionsparole entwickelt habe: E(galité) – L(iberté) – F(raternité). Seit dem 19. Jahrhundert dirigieren elf Vorsitzende, der sogenannte „Elferrat“, das Geschehen. Der 11. November bot sich aus vielen Gründen als Start in die 'Fünfte Jahreszeit' an. Seit alters wurden an diesem Tag die bäuerlichen Feldarbeiten eingestellt. Man feierte ein großes Fest, an dem Knechte, Mägde und Dienstboten entlohnt wurden. Zudem ist der 11. November der Festtag des Heiligen Martin, der als Schutzpatron der an diesem Tag geschlachteten Gänse und des neuen Weins schon seit der Spätantike entsprechend gefeiert wurde. Auch bot sich das Datum an, weil an ihm früher das Adventsfasten begann (nach einer Dauer von 40 Tagen endete es am 21. Dezember, dem Tag des Winteranfangs); so beginnt ja auch die große Fastenzeit bis heute nach den Närrischen Tagen und dauert ebenfalls 40 Tage (wobei die Sonntage nicht eingerechnet werden), von Aschermittwoch bis Ostern.
 
Die Zahl Elf steht seit der Antike immer ein wenig im Geruch des Unzukömmlichen und damit auch im Bereich des Strafbaren. So gab es im Justizwesen des alten Athen das Elfmännergremium (zehn Amtmänner und ein Schreiber), das den Vollzug der Todesstrafen überwachte. Eine Fußballelf besteht aus zehn Feldspielern und einem Torwart. Der Elfmeter wird im Fußballspiel bekanntlich Strafstoß genannt. Mit ihm wird ein Foulspiel bestraft, wie denn auch die englische Ursprungsbezeichnung „penalty“ (vgl. mittellateinisch „poenalitas“, französisch „pénalité“) auf Bestrafung anspielt und für die Exekution einen Abstand vom Tor von elf Metern (12 Yards) verordnet.
 
In der Bibel, deren Zahlennennungen von alters her zuhauf und immer wieder symbolisch gedeutet werden, begegnet die Elf relativ selten. Dafür aber liegt ihr Sinn so fest wie bei keiner anderen Zahl. Die Kirchenväter haben sich bei ihren Deutungen der biblischen Zahlensymbolik an den 11. Psalm gehalten, in dem drastisch von Sündern die Rede ist, die „alle abgewichen sind, da ist keiner, der Gutes tue.“
 
Im Alten Testament (1. Mose 37.9-16) träumt der ägyptische Joseph, Sonne (Vater), Mond (Mutter) und elf Sterne (seine Brüder) würden sich vor ihm neigen – Joseph als der auserwählte Sohn Jakobs wird die Zahl (den 12 Stämmen Israels entsprechend) wieder ins Gerade bringen. Ein Pendant findet sich im Neuen Testament. Judas hat durch Verrat und Selbstmord die Zahl der von Christus erwählten zwölf Apostel (Matth. 10.3) zerstört und auf elf vermindert: nach Meinung der Kirchenväter die Bestätigung dafür, daß die Elf ein Zeichen der Unvollkommenheit und der Sünde ist. Die elf Apostel wählen denn auch nach der Himmelfahrt Christi unter Anleitung des Heiligen Petrus einen Ersatzmann. Zu Beginn der Apostelgeschichte (1.15-26) wird geschildert, wie aus der Elf wieder die von Christus gewollte Zahl Zwölf wurde:
 
                Und in den Tagen trat auf Petrus unter die Jünger und sprach: […]          
                So muß nun einer unter diesen Männern, die bei uns gewesen sind  
                die ganze Zeit über, welche der Herr Jesus unter uns ist aus und ein            
                gegangen […], daß einer empfange diesen Dienst und Apostelamt,           
                davon Judas abgewichen ist […] und das Los fiel auf Matthias; und    
                er ward zugeordnet zu den elf Aposteln.
 
Auch hier wird also die durch einen Sünder in die Welt gesetzte Zahl Elf durch die Rundzahl Zwölf wieder ins Reine gebracht. Wenn Nachtwächter die Stunden absangen, wurde um 11 Uhr abends immer auf diese biblischen Gegebenheiten zurückgegriffen:
 
                Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen,
                unsre Glock hat elf geschlagen.
                Elf Jünger blieben treu,
                Einer trieb Verräterei.
 
Immerhin fanden die Bibeldeuter in einem berühmten Gleichnis Jesu (Matth. 20.1-16) einen Schatz an Zahlen, denn der Herr des Weinbergs geht zur 3., 6., 9. und 11. Stunde auf den Markt, um jeweils Tagelöhner einzustellen; allen verspricht er eine Entlohnung, die nach damaligen Verhältnissen für die Bedürfnisse eines Tages ausreichte. Als ein Arbeiter, der den ganzen heißen Tag über im Weinberg gewirkt hat, sich am Abend beschwert, daß der, der nur eine Stunde gearbeitet hat, den gleichen Lohn erhält, weist der Herr ihn zurecht:
 
              Mein Freund, ich tu dir kein Unrecht. Bist du nicht mit mir eins     
              geworden um einen Denar? Nimm, was dein ist, und gehe hin! Ich     
              will aber diesem letzten geben gleich wie dir. […] Siehst du darum so       
              scheel, weil ich so gütig bin?
 
Die gängige Deutung der Parabel besagt, daß Gott sich auch der Sünder erbarmt, die buchstäblich erst in ihrer letzten Stunde zu ihm finden und ihnen den gleichen Lohn verspricht wie denen, die ihm ihr Leben lang gedient haben. Auch in dieser Deutung wird die Zahl Elf wieder mit Sündern oder Sünden in Verbindung gebracht.
 
Was die Rolle der ominösen Elf in der Literatur betrifft, so kann hier nur auf ein Beispiel verwiesen werden. Der Germanist Oskar Seidlin hat in einer brillanten Studie (Von erwachendem Bewußtsein und vom Sündenfall. Stuttgart 1979) diese Zahl als heimliches Zentrum in Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ entdeckt und sie als Zeichen für Sündenfall, Spaltung und das Zerbrechen in zwei Teile interpretiert. Kleist hat in Leben und Werk die Elf stets als (s)eine Schicksalszahl empfunden, und man kann sich fragen, ob er, dem nach seinen eigenen Worten im („am Morgen meines Todes“ datierten) Abschiedsbrief „auf Erden nicht zu helfen war“, ausgerechnet den 21.-11.-11 als Tag für seinen sorgfältig geplanten Selbstmord ausgewählt hatte. Damit hätte er sich endgültig in den Bann der Übles verheißenden Schicksalszahl gestellt, wie das Richard Wagner zeitlebens mit 'seiner' Zahl Dreizehn hielt, die ihm allerdings immer Glück bescheren sollte.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021