Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken

Aus meinem Corona-Logbuch, Folge 17

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Michael Zeller
 
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
 
Aus meinem Corona-Logbuch, Folge 17
 
Lesung bei Corona II
 
Bald ein Jahr ist vergangen seit meiner letzten öffentlichen Lesung. Fast muß ich heute erklären, was das einmal war: der Auftritt eines Autors vor Publikum, vor vielen lebendigen Menschen, die arglos eng nebeneinander saßen, Stuhlkante an Stuhlkante, die Gesichter gut kenntlich. Wozu hätten sie ihr abwartendes Lächeln auch hinter einer Maske verstecken sollen? Sie waren in einen überschaubaren Veranstaltungsraum gekommen, um einem Stück Literatur zuzuhören und danach darüber zu reden, mit dem Verfasser und miteinander.
Selige Zeiten! Nur ein Jahr soll seither vergangen sein?
 
Heute lese ich wieder, sogar aus dem gleichem Text. Damals, vor einem Jahr, war er noch in Arbeit, jetzt - schneller als erwartet, dank Corona – liegt er bereits als Buch vor, in ukrainischer Übersetzung. Doch diese Lesung erinnert auch nicht von fern an das Ereignis von vor einem Jahr. Sie findet elektronisch statt und ist mittlerweile meine dritte oder vierte Lesung ohne Publikum, nur mit der Kameralinse als Ansprechpartner.
Die Veranstaltung beginnt, es ist früher Abend. Ich sitze, wie fast den ganzen Tag, an meinem Computer. Nicht gerade in Trainingshose und Schlabberpulli, aber doch eher unfestlich gekleidet. Ein Sakko? Daran ist nicht zu denken! Vortragen werde ich auch gar nicht mehr. Die Lesung selbst wurde vor Tagen bereits in einem Studio hier aufgezeichnet und zu dem Veranstalter nach Süddeutschland geschickt. Sie ist professionell von drei Kameras aufgenommen, das Auge des Betrachters und Zuhörers wird also nicht allzu sehr strapaziert.
Nach kurzer Begrüßung der zugeschalteten Gäste durch die Veranstalterin in Nürnberg wird die Lesung abgefahren. Als es zur Aussprache über das Gehörte kommt, bin ich wie vom Donner gerührt. Vor mir auf dem Bildschirm sehe ich zwanzig bis dreißig paßfotogroße Gesichter von Menschen, unter denen ich - neben vielen Unbekannten - so viele Freunde entdecke, aus nah und fern, aus dem ganzen Land, von Hamburg über Berlin bis Heidelberg, aus Charkiw wie aus Vicenza. Ich bin überwältigt. Wie soll ich darauf reagieren? Ein verstecktes Winkewinke, kindlich-spontan, mehr nicht. „Mensch, wie geht es dir denn?“  würde ich manchem gern direkt zurufen, aber das ist hier ja wohl nicht möglich. Manches Gesicht erkenne ich erst auf den zweiten oder dritten Blick: die imposanten Haarschöpfe haben einige doch arg verändert. (Die Friseurläden waren europaweit nicht umsonst seit gut einem Vierteljahr geschlossen – oder soll ich vielleicht nicht besser sagen: gedownlockt?) Und die Gesichter mit ihren mächtigen Mähnen wandern weiter auf meinem Bildschirm, verschwinden, neue tauchen auf. Mehr als sechzig Personen haben sich zugeschaltet, berichtet mir die Veranstalterin hinterher, und viele davon sitzen zu zweit vor ihren Computern daheim. Für eine literarische Lesung ist das eine ordentliche Zahl.
Richtig fassen kann ich das noch immer nicht. Es ist wie in einem Traum: Ich lese vor vielen meiner Freunde aus ganz verschiedenen Städten und sogar aus anderen Ländern. Ein unbestreitbar glückhaftes Erleben, das mir hier zum  ersten Mal geschieht.
Nach anderthalb Stunden ist die Veranstaltung zu Ende, das übliche Format bleibt gewahrt. Doch was danach geschehen mag, bringt meine Phantasie gleich auf Touren: einer der Teilnehmer schiebt jetzt den Stuhl zurück, geht die zwei Schritte hinüber in seinen privaten Bereich, öffnet eine Flasche Wein (es ist ja schließlich Abend), ein anderer setzt Wasser auf für Spaghetti, die dritte schreibt noch geschwind ein paar Mails, zu denen sie vorhin nicht mehr gekommen ist.
Doch damit war es noch nicht getan. Auch mit dem Abschalten der Kamera ist  der Austausch mit einigen der Teilnehmer keineswegs abgeschnitten. Am nächsten Tag ging es munter weiter, natürlich auch das  wieder elektronisch. Unser Wiedersehen hinter Glas war Anlaß, die eine oder andere Frage nachzuschieben, sachlich wie privat. Und es meldeten sich sogar Personen, die mir seit Jahrzehnten vollkommen aus dem Blick geraten waren.
Als ich im November in diesem Logbuch von meiner ersten nichtöffentlichen Lesung berichtet hatte (Folge 11, November 20), benutzte ich den Begriff „digitale Vereinsamung“. Das war und ist nicht falsch. Aber könnte man nicht auch, handkehrum, von einer „analogen Verzwergung der Welt“ sprechen? 
 
Ich weiß es nicht, und ich mag auch keine Prognose wagen.
Doch eines ist gewiß: Diese Lesung, jenseits von Zeit & Raum, werde ich so schnell nicht vergessen.
 

© 2021 Michael Zeller für die Musenblätter