Dokumente einer vergangenen Kinokultur

Herbert Wilfinger – „Kino zum Mitnehmen“

von Renate Wagner

Dokumente einer vergangenen Kinokultur
 
Filmprogramme - Kino zum Mitnehmen
 
Filmfreunde werden tief durchatmen und in einen Glückstaumel verfallen, wenn sie die beiden voluminösen Bände vor sich haben, die vom Filmarchiv Austria herausgegeben wurden – eine große Leistung für diese Institution, denn auch wenn es finanzielle Zuschüsse gab – nach wirtschaftlichen Standpunkten lohnt sich so etwas nicht. Glücklicherweise gibt es auch höhere Interessen.
Denn die Kinoprogramme sind nicht nur Filmgeschichte, sie sind auch Kulturgeschichte in hohem Ausmaß, sie erzählen nicht zuletzt von Design und von Publikumsgeschmack, man kann sie in jede Richtung hin „lesen“. Und die Anordnung von Herbert Wilfinger, der Jahrzehnte lang mit diesem Projekt befaßt war, gibt den Weg vor.
Das Theaterprogramm war fast immer eine Selbstverständlichkeit, man wollte doch wissen, „wer mitspielt“. Im Film war es nicht anders. Außerdem mußte dieser, als er Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt erst erfunden wurde und den Weg von der Dokumentation zum Spielfilm ging, der anfangs noch stumm war, viel erklären.
 
Viel zu erklären, viel zu erzählen ist auch zu den Kinoprogrammen. Wahrscheinlich wird man sich nicht schnell durch alle historischen Reflexionen lesen (die nicht immer chronologisch verlaufen), aber die Bücher sind durchgehend reich bebildert, vordringlich logischerweise mit Programmen, manchmal auch die Innenseiten, meist die Titelblätter, und da kann man Ästhetik ebenso studieren wie Verkaufsstrategien. Beide sind schlicht und vordergründig – und damit auf geradezu naive Art wirksam. Durchschaubar, aber nichtsdestoweniger erfolgreich. Man will verlocken und neugierig machen, bestimmt nicht verstören.
Werbemittel, so stellt man auch ohne weiteres Erstaunen fest, bleiben immer dieselben: weiblicher Sex und männliche Kraftattitüde, die Vorgaben sind denkbar simpel, die Variationen dagegen grenzenlos, die Titelbilder der Filmprogramme diesbezüglich „dramaturgisch“ überaus geschickt.
 
Angesichts der vielen mit ihren Formen lockenden Damen (von den tiefen Blicken, die alles versprechen, ganz zu schweigen) kann man sich auch vorstellen, daß pubertierende Buben diese Programme gehortet und getauscht haben – ob Rita Hayworth oder Jane Russell zeigten, was sie zu bieten hatten. Und wie Grace Kelly oder Maria Schell in den Armen von Gary Cooper dahinschmolzen – da mochte jeder junge Mann Gary Cooper sein und jedes junge Mädchen träumte sich in die Rolle der Heldin. Keine Frage, daß die Bilder dieser Programme viel für die Phantasie eines damals noch nicht von Eindrücken überfütterten jugendlichen Publikums getan haben. Wobei – bedenkt man, wie viele „bunte“ Illustrierte mit dergleichen Kitsch auch heute noch verkauft werden – es fraglich ist, wie viel sich an der Lust an Trivialität geändert hat.
Und was fällt noch ins Auge, auch wenn man es weiß – die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten, da blättert man über den Schulmädchenreport und ist auf der nächsten Seite bei Stanley Kubrick. Und hier ist „Django“ und dort ist „Letztes Jahr in Marienbad“. Und man hat beides gesehen. Und vom deutschen Lustspiel bis zum amerikanischen Western, Von „Doktor Schiwago“ bis zu Louis de Funes, von „Mary Poppins“ bis zu „Winnetou“, von „Pippi Langstrumpf“ bis zum „Großen Fressen“ – war man auch dabei. Kino – in seiner ganzen Fülle.
 
Aber Wilfinger analysiert und interpretiert nicht nur, bietet nicht nur großartiges altes Material und zusätzliche Dokumente (Zeitungsartikel, Zeitschriften, Künstlerfotos, Werbung), er erzählt auch – aus eigener langer Erfahrung, kennt er doch in dem Gewerbe seit Jahrzehnten Gott und die Welt. Auch, daß nicht alle so ehrfürchtig mit dem Filmprogramm umgegangen sind, wird berichtet. Da gab es in der Arbeiter-Zeitung einen wirklich berühmten Filmkritiker, Fritz Walden. Der hat in der Neujahrsausgabe seiner Zeitung von 1954 berichtet, was er von den Programmen hielt, die da offenbar im Dutzend vor ihm am Schreibtisch lagen. Die Fotos der mutig dreinsehenden Cowboys und die freigebigen Busenausschnitte der Schönen erwecken in ihm nur Abscheu, ebenso die durch Photomontagen bis zur Unkenntlichkeit schablonisierten Stargesichter. Er sah in diesen Programmen eine Dokumentensammlung des „Abschaums einer weltumspannenden Vergnügungsindustrie“. Und so landet der Stoß Programme im Papierkorb, „der seine Gier nicht zähmen konnte und das dicke Programmpaket aus der Hand schnappte“.
 
Das müßte einem doch das Herz zerreißen, hätte man mit diesen beiden Bänden nicht den Beweis dafür, daß man auch entschieden liebevoller, respektvoller und sogar dankbarer mit diesen Zeugnissen einer einst nicht abreißenden Kette von Filmen umgehen konnte…Dabei ist heute die Zukunft des Kinos ungewiß. Und die des Filmprogramms, das (für Österreich von Herbert Wilfinger erstellt) kaum mehr an einer Kinokasse liegt, wohl nicht allzu rosig.
 
Renate Wagner
 
Herbert Wilfinger – „Kino zum Mitnehmen“
Filmprogramme in Österreich, 1896 bis 2020
2 Bände, 600 bzw. 584 Seiten
Band 1: Geschichte und Systematik
Band 2: Die österreichischen Filmprogrammserien
Filmarchiv Austria, 2020
(vergriffen)
Weitere Informationen: www.filmarchiv.at