„Man muß erst Wagnerianer sein“ … wirklich?

Alex Ross - „Die Welt nach Wagner“

von Johannes Vesper

„Man muß erst Wagnerianer sein“
… wirklich?
 
Notizen zu „Die Welt nach Richard Wagner“ von Alex Ross
 
Von Johannes Vesper
 
Beim Besuch des Space Centers Houston fällt er ins in Auge: der Roboter namens Valkyrie - zu Deutsch Walküre-. Er sollte bei NASA-Missionen Leben retten. Außerdem: nicht Brünhilde auf ihrem Roß Grane, sondern die Ballonfahrerin Mrs. Harbord überquerte 1908 als erste mit ihrem Ballon namens „Valkyrie“ den Ärmelkanal. Endlich galt In den 60er Jahren der strategische US-Bomber XB Valkyrie als eines der lautesten Flugzeuge überhaupt, jeden falls noch lauter als das Wagnerblech in der „Götterdämmerung“. Richard Wagner (1813-1883) und seine Walküren beEinflußen also die Moderne bis hin zur Raumfahrt. Friedrich Nietzsche hat das früh zusammengefaßt: „Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein (…)“. Robert Ross, einer der angesehensten Musikkritiker der USA (New Yorker, New York Times) nimmt sich auf 912 Seiten dieses Aspektes an, schreibt aber nicht über die Musik. In der „Welt nach Wagner“ geht es um Einfluß und Rezeptionsgeschichte Wagners, dessen Bedeutung als kulturelles und politisches Unterbewußtsein der Moderne kaum überschätzt werden kann. In 15 Kapiteln wird die Geschichte des Wagnerismus -der Begriff wurde im Französischen geprägt - abgehandelt und sein Einfluß auf Literatur, Malerei, Tanz, Film, Philosophie und Politik untersucht. Nicht diskutiert wird Wagners Bedeutung für die Musikgeschichte, Auflösung der Tonalität und Harmonie in Folge des unbestimmten Tristanakkords. Der revolutionäre Wagner wird dargestellt, der feministische. der schwule Wagner, der theosophische Wagner, der Satanist, der Dadaist, der Science-Fiction-Wagner und natürlich der politische Wagner, dessen Mythologie und Musik von den Rechten wie von den Linken, von Hitler bis Lenin politisiert und ausgebeutet wurden. Auch August Bebel wird zitiert …jeder Mensch wird… in Wahrheit Künstler sein“. Er wies damit, weit vorausschauend, offensichtlich schon auf den esoterischen Beuys hin, dem tatsächlich vorgeworfen wird, sich Wagners „kollektive Regression in germanische Mythologie und germanischen Stupor“ anzueignen.
 
Mit dem jungen Nietzsche, gerade Professor in Basel geworden, verband Richard Wagner zunächst eine enge freundschaftliche Beziehung, bis Nietzsche anfing zu komponieren. Seine Kompositionen wurden von Wagner und seinem Kreis als „Verbrechen“ bezeichnet und der Meister zeigte ihm bezüglich seiner Schrift „Menschliches Allzumenschliches“ die kalte Schulter. Bevor Nietzsche im Gegenzug seinen „Freund“ endgültig mit dem „Fall Wagner“ abfertigte, wußte Richard ihn als Faktotum und Propagandist durchaus zu schätzen, schickte er ihn doch nach Straßburg um Süßigkeiten und nach Basel um Seidenunterwäsche zu besorgen. Über Wagners Leben weiß man viel, weil seine zweite Frau Cosima ab 1869 jeden Tag Tagebuch geführt hat (21 Bände!). 
 

Bayreuth, Festspielhaus - Foto © Johannes Vesper

Mit Wagners Tod am 13.02.1883 im Palazzo Vendramin begann die Welt nach Wagner und beginnt das Buch. Auf dem Canal Grande vor dem Palazzo spielte ein Orchester Siegfrieds Trauermarsch als sein instrumentales Grabdenkmal. Zahllose Besucher lauschten dazu auf Gondeln und Stegen. Das Boston Symphony Orchester trauerte jenseits des Ozeans mit einer „Wagnernacht“ um den Komponisten, dessen Tod von Neuseeland bis Paraguay per 5000 Telegrammen bekannt gemacht worden ist. In Paris hatte man seinen geschmacklosen Chauvinismus von 1870/71 nicht vergessen, und identifizierte ihn mit der deutschen Aggression, hatten doch deutsche Militärkapellen bei der Besetzung französischer Städte und auf dem Schlachtfeld von Sedan aus „Lohengrin“ geblasen. So kam es bei einem der dortigen Gedenkkonzerte zu einem Skandal und zum wilden Galopp der Walküren brach Zischen, Johlen und Geschrei vom „Bravissimo“ bis zum „Raus mit den Raben“ aus. Aber schon zu Lebzeiten war Wagner auch anderswo kontrovers aufgenommen worden. In London machten sich die Zeitungen beim großen Wagnerfestival 1877, über das Publikum lustig und höhnten „daß nach jedem Konzert Sonderzüge vom Bahnhof Kensington High Street zu den Irrenhäusern in den Vororten fahren“ um die Wagnerianer heim zu bringen. Man sang übrigens die Wagneropern damals alle auf Italienisch, in dieser Zeit die Standardsprache der Oper dort.
Wagner zeigte sich übrigens in seinen Werken alles andere als nationalistisch, in dem er für seine Opern verschiedenste Schauplätze in Europa (Cornwall (Tristan), Antwerpen (Lohengrin), Norwegen (Holländer), Rom (Rienzi) bot.
1842 in Paris war Wagner dem Schuldenturm kaum entgangen. 1848/49 stand er als utopischer Anarchist und Revolutionär mit Bakunin auf den von Gottfried Semper gebauten Barrikaden und mußte 12 Jahre im Schweizer Exil verbringen. Erfolg stellte sich erst mit der Uraufführung des „Lohengrin“ unter Franz Liszt in Weimar 1850 ein, von der der berühmte Musikkritiker Gérard de Nerval berichtet hatte, ohne dabei gewesen zu sein, daß der Gral, den Lohengrin suchte, „für das Ziel all derer, die Abenteuer suchten, ähnlich wie das goldene Vlies in der Antike oder heutzutage Kalifornien“ Bedeutung habe . Der Text stammt nicht von heute. Damals ging es um den Klondike-Goldrausch.
 
In Paris schreckten die Wagnerianerinnen bei Wagners Konzerten vor nichts zurück, trugen „gelbe Satinkleider mit karmesinrotem Mieder, gebauschte Röcke, ... geflochtene Goldgürtel, Fuchsschwanzhütchen, bündelweise Bänder mit Muscheln und Perlen besetzte Bänder, weiße Federn hinter dem Ohr, …Frisuren der Zukunft“. Endlich kam man dort auf Anweisung von Napoleon III. in den Genuß des „Tannhäuser“ und am 13. März 1861 kam es zu dem bekannten Skandal, der hier nicht erneut geschildert werden soll. In Folge dieser Aufführung schrieb Baudelaire seinen elftausend Wörter umfassenden Artikel über Richard Wagner, dem er „den größten musikalischen Genuß“ den er je gehabt habe, verdanke. Er sei von Wagners Musik „durchdrungen und überwältigt“, empfinde „wahrhaft sinnliche Wollust“. „Wagnerisme“ nahm intellektuell in großem Stil in Paris erst nach des Meisters Tod Fahrt auf. „Man muß erst sterben, um das Interesse von Paris zu gewinnen“, schrieb Tschaikowsky aus Paris. Nach dem ersten Lohengrin 1887 kam es zu einem fast größeren Skandal als beim „Tannhäuser“ 1861. Es tauchten sogar Flugblätter auf: „L´Antiwagner“ mit dem Untertitel „Wagner pédéraste“. Flaubert hielt Wagners Gegner für rückständig und vermutete, daß es Wagner-Gegner waren, die sich schon 1863 über das „Frühstück im Freien“ von Manet lustig gemacht haben. Henri Fantin-Latour und Paul Cezanne waren begeisterte Wagnerianer und Vincent van Gogh empfand Gleichklang zwischen seinen eigenen intensiven Farben und Wagners volltönenden Akkorden. Seurat hat in Anlehnung an die neue Verdunklung des Zuschauerraums in Bayreuth breite, dunkle Rahmen verwandt und Signac sein Kanu auf der Seine mit dem Schriftzug Manet-Zola-Wagner dekoriert. Der Einfluß Wagners auf die Malerei reicht endlich über Franz Marc bis hin zu Anselm Kiefer, liest man, und lernt, wie die literarische Welt Frankreichs, Englands und der USA von Wagner, dem Genie und „Monster“, durchdrungen und beeinflußt wurde. Die Franzosen sahen in ihm den Erfinder der Moderne. Symbolisten wie Verlaine und Mallarmé dichteten für die Revue wagneriénne Sonette für Wagner, und Alex Ross schlägt Brücken von Wagners „Ring“ zu Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, die dieser jedenfalls nicht nach einem Besuch langdauernder Wagnerscher Opern begonnen zu haben scheint. James Joyce aus Irland hatte sein eigens Verhältnis zu Wagner. In den USA transportierte Willa Cather (1873-1947), eine der wichtigsten Literatinnen der USA (Pulitzer Preis 1923) in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts Wagners Figuren sogar in die Landschaft Nebraskas und New Mexicos. Und in Deutschland? Für Thomas Mann

Wagner-Skulptur von Otmar Hoerl - Foto © Johannes Vesper
war Richard Wagner das „größte Talent aller Kunstgeschichte“. Im „Zauberberg“ heißt es aber, „Musik allein ist gefährlich“, wahrscheinlich wird damit vor Wagner gewarnt, mit dem er sich immer wieder als Mythenschöpfer, als deutschen und internationalen Intellektuellen, als Anarchisten, Sozialist und Populist immer wieder auseinandergesetzt hat. Am Ende bedauert er die „kulturelle Abscheulichkeit“ wie Wagner von den Nationalsozialisten ausgebeutet, mißbraucht wurde und ist entsetzt, wie der NaziI-Mob bei der Wiedereröffnung der Festspiele 1924 sich seiner bemächtigt. Dabei befindet sich Richard Wagner mit seinem schlimmen Antisemitismus-Pamphlet („Das Judentum in der Musik“) in guter deutscher Gesellschaft. Schon Luther, der von den „Juden und ihren Lügen“ sprach, wollte Synagogen niederbrennen, und den Zerstörungen der Judenghettos verdanken Würzburg, Nürnberg u.a. ihre großen Marktplätze. War Antisemitismus bis ins 19. Jahrhundert vorwiegend religiös begründet worden, wurde er dann rassentheoretisch erklärt, was Wagner durchaus unterstützt hat. Was ihn zu dieser Schrift getrieben hatte, bleibt ungeklärt. Er war befreundet mit Heinrich Heine, hatte Anregungen von ihm empfangen, wurde unterstützt von Meyerbeer, widmete Mendelssohn seine einzige Sinfonie und schätze jüdische Dirigenten - Hermann Levi dirigierte die Uraufführung des Parsival -. Reichte sein Sozialneid auf die Erfolgreichen aus? In seinen Opern findet sich dagegen kein Antisemitismus. Das alles und mehr steht in „Die Welt nach Wagner“ einer glänzend geschriebenen, gut lesbaren, nahezu enzyklopädischen Kulturgeschichte Europas und der USA im Gefolge Richard Wagners. Eine ungeheure, überbordende Zahl an Fakten liegt diesem Versuch der Gesamtdarstellung zugrunde. Allein für die Anmerkungen am Ende werden 107 kleingedruckte Seiten benötigt. Das umfangreiche Personenregister zeigt, wie viele Personen hier besprochen werden. Zahlreiche Bilder nebst 11 Farbtafeln illustrieren die Geschichte. Klarheit und Eindeutigkeit über Richard Wagner als Kulturphänomen liefert Alex Ross nicht. Wer aber erfahren will, was die antiwagnerische Karikatur „La Wachkyrie“ im 1. Weltkrieg mit französischem Weichkäse zu tun hat, der nehme sich für die jedenfalls anregende und interessante Lektüre ausreichend Zeit und Muße. Zum Wagnerianer wird man dabei nicht. Dazu bedarf es Walküren und Wagnertuben!
 
Alex Ross - „Die Welt nach Wagner“
Aus dem amerikanischen Englisch von Gloria Buschor und Günter Kotzor.
© 2020 Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 912 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-498-00185-8
40,- €
Weitere Informationen: www.rowohlt.de