Schwesterchen springt aus den Schuhen und geht aufs Ganze

Grimms Märchen in tiefenpsychologischer Deutung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Schwesterchen springt aus den Schuhen
und geht aufs Ganze
 
Grimms Märchen in tiefenpsychologischer Deutung
 
Von Heinz Rölleke
 
Seit Sigmund Freuds Studien über Traumsymbole und ihre Bedeutung (Traumdeutung. Leipzig/Wien 1900) gibt es unter den Tiefenpsychologen in aller Welt kein Halten mehr: Neben die meist diskussionswürdigen Deutungsvorschläge Freuds traten mehr und mehr Thesen, die eher im Bereich der Phantasie der psychoanalytischen Traumdeuter als in wissenschaftlichen Beobachtungen gründeten. Da Freud eine tatsächlich gegebene partielle Verwandtschaft von Traum- und Märchenstruktur konstatiert hatte, dehnte man die Symboldeutung auf die Dauer geradezu hemmungslos auf die berühmtesten Zeugnisse dieser Textsorte aus, die sich bekanntlich bis heute in Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM; Auflagen zwischen 1812 und 1858) finden.
 
Einen Höhepunkt in jüngerer Zeit markieren die zahlreichen Bücher des 1992 suspendierten katholischen Theologen Eugen Drewermann, der eine Zeitlang in fast jedem Jahr beim Olten-Verlag ein opulentes Buch mit dem Untertitel „Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet“ herausbrachte (etwa über die KHM 3, 4, 12, 24, 31, 34, 161, 193, 197 u.v.a.m.).
Als Beispiel für den immer gleichen Umgang mit den Grimm'schen Texten und die ebenso unveränderte Interpretatiosmethode sei  das 1990 erschienene Buch „Brüderchen und Schwesterchen“ gewählt.
Das von Drewermann gedeutete Märchen ist eine 1819 als KHM 11 erstmals in dieser Form veröffentlichte Kontamination zweier Erzählungen der Beiträgerin Marie Hassenpflug aus dem Jahr 1811. Der Text erweist sich bei näherer Betrachtung als eine wenig geglückte, nicht immer gattungskonforme Variante der KHM 13 („Die drei Männlein im Walde“) und 135 („Die weiße und die schwarze Braut“). Solche und andere Facta und Realia zum Textverständnis, zur Entstehungs-, Überlieferungs- und Bedeutungsgeschichte eines Märchens interessieren die Tiefenpsychologen nicht: Sie werden in der Regel ignoriert (das geht bis hin zu unglaublichen Fehlinformationen, so wenn etwa Eugen Drewermann in allen Auflagen seiner Deutung des Grimm'schen Märchens „Schneeweißchen und Rosenrot“ behauptet, seiner Textwiedergabe und seiner ausführlichen Interpretation läge die Fassung der zweiten KHM-Ausgabe von 1819 zu Grunde, ohne zu bedenken, daß es sich hier um eine Kunstmärchendichtung Wilhelm Grimms handelt, die er in Hauffs „Mährchenalmanach“ auf das Jahr 1827 und erst 1833 sowie 1837 in den „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlicht hatte).
 

Da sprach das Brüderchen: „Schwesterchen, mich dürstet,
wenn ich ein Brünnlein wüßte, ich ging und tränk einmal;
ich mein, ich hör eins rauschen.“ 
Thomas Schleusing pinx. - © Brigitte Schleusing
Der von Drewermann untersuchte Märchentypus konzentriert die Handlung ursprünglich stets auf eine Figur; durch Irritationen in der Überlieferungsgeschichte sind daraus zwei Personen geworden. In KHM 13 und KHM 135 durchlebt durchaus gattungskonform nur die Märchenheldin die obligatorische Tierverwandlung; in KHM 11 ist diese einer zweiten Figur, dem unorganisch in die Handlung eingeführten „Brüderchen“ vorbehalten, was zu einigen logischen Brüchen führt. In der tiefenpschologischen Deutung mutiert das Brüderchen zu einer bloßen seelischen „Abspaltung“ der Hauptfigur, als wenn nur dieser die Schicksale und die Reaktionen beider Protagonisten zuzuschreiben wären. Eindrucksvoll wird in KHM 11 vom Brüderchen in der vorübergehend angenommenen Gestalt eines Rehkälbchens erzählt, vom Hergang der Verwandlung („Wer aus mir trinkt, der wird ein Reh“) und dessen Schicksalen erzählt (es entflieht dreimal der rührenden Obhut seines Schwesterchens, um sich in das Getümmel einer königlichen Jagd zu stürzen). Zuletzt heißt es nach der eindringlichen Warnung der Schwester („nun werden sie dich töten [...], und ich verlassen [sein] von aller Welt: ich laß dich nicht hinaus“):
 
            „So sterb ich dir hier vor Betrübnis“, antwortete das Rehchen, „wenn ich das     
           Hüfthorn höre, so mein ich, ich müßt aus den Schuhen springen!“
 
Beim dritten Mal passiert es erwartungsgemäß: Der König folgt dem Rehlein, kommt vor ihm in der Hütte der Geschwister an, bewirbt sich sofort um die Hand des schönen Mädchens und heiratet es. Der hexenhaften Stiefmutter scheint ein Attentatsversuch zu gelingen. Sie erstickt die junge Königin im Bad. Die zentralen Märchenfiguren sind bekanntlich nie irreversibel tot, also erscheint auch die junge Mutter mehrmals mit dem um Mitternacht wiederholten Spruch:
 
            „was macht mein Kind? was macht mein Reh?
            Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr.“
 
Märchenkenner werden sich erinnern, daß in den parallelen Passagen von KHM 13 und KHM 135 die im Wasser ertränkte junge Mutter in Gestalt einer Ente erscheint, die der König tatsächlich oder symbolisch töten muß, um aus dem Tier seine Braut zu entwandeln (diese und ihre vorübergehende Wiederverkörperung in einem Tier können ja schlechterdings nicht nebeneinander existieren). In KHM 11 gerät der Märchenerzähler an diesem Punkt der Handlung in eine Klemme, und er zieht sich erkennbar ungeschickt aus der Affäre. Der König hat schließlich in der Geistererscheinung seine junge Frau erkannt:
 
           Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach „du         
           kannst niemand anders sein, als meine liebe Frau“, und [sie] hatte in dem           
           Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten.
 
An die Stelle des alten Märchenwunders (die fast selbstverständliche Tierentwandlug) ist ein modernes Legendenhappyend getreten: Der liebe Gott, der weder hier noch sonstwo im Märchen eine Rolle spielt, muß es richten. Die Märchenheldin hat nicht nach der animistischen Märchenlogik die Tierverwandlung durchlebt (die wurde auf das Brüderchen übertragen) – was macht man nun mit dem Rehlein?
 
            Die Hexe […] mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt     
           war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt       
           wieder.
 
So viel nur (es wäre noch manches dazu zu sagen) zu den Hauptmotiven des Märchens KHM 11. Auf diesem Hintergrund nimmt sich Drewermanns Interpretation seltsam, um nicht zu sagen etwas bizarr und jedenfalls hergesucht aus. Das Mädchen in der Phase der Pubertät, erlebt (weitgehend unbewußt) seinen Sexualtrieb, der sich zunächst in masochistischer Nuance zeigt, denn das Rehbrüderchen (angeblich nur die andere Seite ihres Ich) läßt sich von seinem künftigen Bräutigam mit Lust wiederholt jagen und bedrohen, hetzen und verwunden. Ein Schlüsselwort für solche tiefenpsychologischen Erklärungen ist mit dem sprichwörtlich klingenden Ausruf des Rehleins gegeben „so mein ich, ich müßt' aus den Schuhen springen“, denn so macht Drewermann die allein richtige Deutung der Märchenmotive der vorausgegangenen Verwundung und der endgültig zur Strecke gebrachten Jagdbeute wie folgt definitiv fest:
 
           Die Verwundung kann sich an dieser Stelle gewiß nicht mehr auf die erste            
           Erfahrung der Menstruation beziehen, sondern symbolisiert allem Anschein          
           nach die wie einen Schock empfundene Defloration. Für diese Deutung    
           spricht [...] das Symbol des Fußes, mit dem bereits in der Bibel gerne das
           (weibliche) Genitale bezeichnet wird. Der Grund […] liegt in der ängstlichen       
           Verschiebung nach unten, dann aber auch in der länglichen Form des Fußes        
           sowie seines Pendants: des Schuhes. Tatsächlich erklärt denn auch das     
           Rehlein […] daß es am dritten Tag beim Erschallen des Hüfthorns (eines  
           deutlich männlichen Symbols) vermeint „ich müßt' aus den Schuhen          
           springen“. Wie ein Rehlein zu Schuhen kommt, […] erinnert an die ekstatische     
           Lust des Mädchens endlich aufs Ganze zu gehen.
 
Nach weniger phantasievollem, wenn auch bescheidenerem Textverständnis trägt das Rehlein gewiß keine Schuhe, sondern es gebraucht ein Bild in aller Harmlosigkeit. Warum mit der Verwundung des Rehleins bei der zweiten Jagd auf eine „Defloration“ angespielt sein soll, muß sich allgemeiner Erkenntnis wohl verschließen: Nach dem „Schock“ drängt es das Rehbrüderchen (also die abgespaltene Seite des Schwesterchens) wieder zur Jagd, und die Defloration hatte denn doch wohl eher in der umständlich herbeigeführten Hochzeitsnacht statt, wie das in allen einschlägigen Grimm'schen Märchen üblich ist.

Und als es sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht sah,
so erkannte er das schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte, und
rief: „Das ist die rechte Braut!“

Aschenputtel - Foto © Alina Gross
 
Man wird nicht gänzlich abstreiten können daß mit dem Schuhmotiv sehr dezent auf unendlich alte Vorstellungen von der besonderen Bedeutung der Brautschuhe angespielt ist, und zwar in dem Sinn, daß eine eheliche Verbindung bevorsteht. Im altägyptischen Rhodope-Märchen fällt dem Prinz im Schlaf ein schöner Frauenschuh in den Schoß, und er gibt sich erst zufrieden, als er die dazugehörige Frau entdeckt. Ähnlich geht es im „Aschenputtel“-Märchen zu, wo der Prinz keine Ruhe gibt, bis er die Besitzerin des von ihm gefundenen Schuhes identifizieren und heiraten kann. Alte Bräuche, daß man Brautschuhe nur mit gesammelten Pfennigen bezahlte, daß man beim Hochzeitsgelage aus den Schuhen der Braut trank, daß man im Moment der Trauung versucht, seinen Schuh auf den des Partners zu setzen (um ihn künftig unter dem Pantoffel zu haben), lassen etwas von dieser Aura erkennen. Die direkte In-Eins-Setzung von Schuh und Vulva führt indes zu einigen interpretatorischen Gewaltsamkeiten und fragwürdigen Weiterführungen. Eugen Drewermann wundert sich zunächst, warum Schwesterchen dem verwandelten Brüderchen ausgerechnet ihr Strumpfband um den Hals legt und „woher bei einem so armen Kind […] plötzlich ein Strumpfband aus Gold stammt“; doch dann findet er auch dafür eine „deutliche“ Erklärung:
 
           Dann steht das Strumpfband selbst gewiß für eine deutlich erotische          
           Bereitschaft […]. Ohne Zweifel kommt in der runden Form des     
           Strumpfbandes, das dem Rehlein um den Hals gelegt wird,
           auch bereits eine deutliche Paarungssymbolik von Männlichem und Weiblichem zum Ausdruck.

 
Es ist nicht sicher, ob die hier ausgewählten Zitate diese Drewermann'sche Einsicht zu stützen vermögen:
 
           Immer wieder ist es erstaunlich, in welcher Feinheit Märchen über die      
           intimsten Vorgänge und Seelenzustände zu sprechen vermögen, ohne den Kreis     
           respektvollen Anstands und vornehmer Zurückhaltung zu überschreiten.


Der siebte Zwerg aber... - Thomas Schleusing pinx.
© Brigitte Schleusing
Die seriöse Märchenforschung ist sich weitgehend darin einig, in den alten Texten auch Bilder für Pubertät und Reifung zu sehen, dafür spricht unter anderem, daß die für kindliche und heranwachsende Rezipienten angebotenen Identifikationsfiguren sämtlich in diesem Alter stehen (wenn ausnahmsweise eine genaue Altersangabe gemacht wird, so sind die Märchenhelden bei ihren Reifeprüfungen zwischen 14 und 16 Jahre alt, und sie sind am Ende einer langen Zeitspanne auf dieser Altersstufe geblieben – man denke an Dornröschen, die als 15-jährige in einen hundert Jahre währenden Schlaf fällt und danach, am Ende ihrer Reifezeit,  als immer noch 15-jährige heiratet). Ob man, auf den inzwischen breit ausgetretenen Spuren Sigmund Freuds weitergehend, nach Hinweisen auf verdeckte Erotik und Sexualität suchen muß, steht dahin. Die jüngeren Ergebnisse sprechen nicht dafür, obwohl sie oft mit einem gewissen Anspruch auf Unfehlbarkeit auftreten. Es sei zum Abschluß nur ein Beispiel aus dem 1992 erschienenen Artikel „Jungfernschaft“ in der verdienstvollen Enzyklopädie des Märchens wiedergegeben:
 
            Bei KHM 53 (Schneewittchen) wird besonders die sexuelle Unschuld der [7-       
            jährigen!] Protagonistin kontrovers diskutiert. Sammelt sie bereits bei den            
            Zwergen sexuelle Erfahrungen, möglicherweise auch nur durch Masturbation     
            verbunden mit ödipalen Phantasien, oder bedeutet das Stolpern der Diener, die  
            den Sarg tragen, die Defloration, was wiederum auf eine rituelle   
            Entjungferung durch Untergebene hinweisen würde? Bettelheim hebt hervor,      
            daß Schneewittchen weniger zurückhaltend ist, als sie oft eingeschätzt wird:       
            Sie probiert alle Betten aus.
 

Na und? möchte man zu dieser letzten Beobachtung anmerken. Welche Phantasien die tiefenpsychologisch verfahrenden Interpreten bei ihren textfremden Vermutungen über das Tun und Lassen im Zwergenhaus leiten, kann man nur vermuten.


 

Schneewittchen - Foto © Alina Gross 

Es gibt bei der Interpretation von Dichtungen und erst recht von Märchen kein eindeutiges 'richtig' oder 'falsch'. In diesem Sinn sprach schon Jacob Grimm mit Recht, aber auch mit großem Respekt von „ungenauen Wissenschaften“. Also ist es legitim und oft sogar förderlich, über das mehr oder weniger Zutreffende divergierender Interpretationen zu diskutieren und auch zu streiten. Indes macht es wenig Sinn, wenn man dabei die unabdingbaren philologischen Voraussetzungen aus dem Auge läßt: Textgenauigkeit, historisch stimmiges Textverständnis, Berücksichtigung der Entstehungszeit und des Wandels der Texte im Lauf der Überlieferungsgeschichte einschließlich der Unterscheidung älterer und neuerer Text- und Motivschichten, Fragen nach dem Märchenerzähler und -bearbeiter. In diesen Punkten kann man im Idealfall zu einer einheitlichen und tragfähigen Basis verschiedener Deutungen gelangen, die allesamt willkommen und bereichernd sind, sofern sie nicht von Vorurteilen oder einseitigem Erkenntnisinteresse geprägt sind.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021

Redaktion: Frank Becker