Nachdenken über Grillparzer (3)

von Renate Wagner

Franz Grillparzer 1841 - Joseph Kriehuber pinx
Nachdenken über Grillparzer (3)
 
Von Renate Wagner
 
Das Nachdenken bezieht sich auf Dinge, denen meiner Meinung nach in dieser Lebensgeschichte von Franz Grillparzer zu wenig Beachtung geschenkt wurde – und wohlgemerkt, die Lebensgeschichte möchte ich neu befragen und erzählen.
Man neigt dazu, diesem „Beamten“ ein weitgehend ereignisloses, gewissermaßen auch temperamentloses, langweilig dahinfließendes Leben zuzuschreiben. Es paßt zum Klischee des „grantigen Hofrats“, zum ehescheuen Junggesellen, zum braven Untertan.
Hat man sich, wenn man diesen Klischees ins Netz geht, mit vielen, bei genauer Betrachtung erschreckenden Details dieses Lebens befaßt?
Denken wir einmal die persönlichen Tragödien seiner frühen Jahre.
Hat man sich wirklich schon ausreichend gefragt, wie ein Mann von 26 Jahren darauf reagiert, daß sein jüngerer Bruder Selbstmord begeht?
Und, viel, viel schlimmer noch, eineinhalb Jahre später, Grillparzers ist 28, mit der Sappho Burgtheaterdichter, da findet er seine Mutter erhängt in der Wohnung.
Viel wurde über die Verdrängung gesprochen, daß er diesen Tod nie kommuniziert hat, daß er in seiner Selbstbiographie so beschönigend darüber hinwegschrieb, daß man, wüsste man es nicht, den Selbstmord nicht wahr genommen hätte.
Aber man muß sich diese Situation in ihrer ganzen Schärfe vergegenwärtigen – ein noch junger Mann, der sein Leben lang mit dieser Mutter zusammen gelebt hat, auf engstem Raum und in engster Kommunikation, nicht nur durch die gemeinsame Liebe zur Musik und zum vierhändigen Klavierspiel, sondern auch in seiner Funktion als der Mann, der nach dem Tod des Gatten und Vaters ihr Leben bestimmte, der die Verantwortung für sie trug – und sie bringt sich um, gerade zehn Monate, nachdem der Sohn das Höchste erreicht hat, was man als Dramatiker in Wien, in Österreich erreichen konnte, eine erfolgreiche Uraufführung am k.k. Hofburgtheater?
Er wollte es uns nicht sagen, was er fühlte, als er ins Zimmer trat und vor der Leiche seiner Mutter stand – aber wir müssen uns nur vorstellen, mit welch namenlosem Entsetzen jeder einzelne Mensch auf eine solche Situation reagieren würde, müßte er sie selbst erleben. Bilder, die man nie aus dem Kopf bekommt, die vermutlich lebenslang nachwirken.
Und doch, Grillparzer mußte die seelische Labilität seiner Mutter besser gekannt haben als jeder andere, er hat sie täglich erlebt, täglich damit gelebt?
Könnte am Ende auch ein Hauch Erleichterung im Schmerz gewesen sein? Und die damit verbundene Scham über die eigenen, gemischten Gefühle?
Sollten wir nicht ein bißchen mehr darüber nachdenken?
Auch darüber, daß dieser Franz Grillparzer, 1791 geboren, in einer Welt ununterbrochener Kriege aufgewachsen ist?
Napoleonische Kriege nennen wir sie heute, sie begannen ein Jahr nach seiner Geburt, sie endeten 1815, als er 24 Jahre alt war! Eine ganze, lange Jugend in Kriegszeiten, die Unterbrechungen waren kürzer als die Kampfhandlungen allerorten.
Zweimal war Wien von den Franzosen besetzt, 1809 zog es den 18jährigen Grillparzer,
„mit Haß im Herzen“, aber „mit magischer Gewalt“,
wie er in seiner Selbstbiographie schreibt, nach Schönbrunn, um den Usurpator in lebendiger Gestalt zu sehen. Und siehe da, da war er, dieser Napoleon,
„Er bezauberte mich wie die Schlange den Vogel…“
Der junge Grillparzer hat wohl gespürt, daß er in diesem kleinen Mann, der vielleicht sogar ein wenig lächerlich aussah, ein lebendes Stück Weltgeschichte vor sich sah?
Fragen wir uns doch auch einmal, wie sich der 35jährige, im Grunde wohl bestallte Beamte Herr Grillparzer (dessen „König Ottokar“ erst im Jahr davor im Burgtheater uraufgeführt worden war!) fühlte, als es am 19. April 1826 an seine Tür klopfte und drei Polizisten davor standen.
Er weiß ja nun sehr gut, daß er in einem Polizeistaat lebt, aber dieser trifft doch nicht die braven Bürger wie ihn? Von diesen drei Polizisten nun verhaftet zu werden, streng verhört und schließlich „nur“ unter Hausarrest gestellt, weil man vermutet, die schwadronierende Literatentruppe in der „Ludlamshöhle“ plane staatsgefährdende Aktivitäten, was natürlich lächerlich ist – nein, es ist kein Spaß.
Man lebt ihn scheinbar beschaulichen, aber im Untergrund unruhigen Zeiten, und, wie man sieht, es kann jeden treffen. Ins Gefängnis wie Nestroy, der sich immer wieder mit der Zensur anlegte und hinter Gittern fuchsteufelswild wurde, kam Grillparzer nicht. Aber fuchsteufelswild war auch er angesichts der österreichischen Zustände.
Und apropos unruhige Zeiten: War das Jahr 1848 in Wien wirklich so gemütlich?
Wenn Grillparzer für seine Erinnerungen an das Revolutionsjahr 1848 auch getadelt wurde, zurecht vielleicht, wenn er es „die lustigste Revolution“ nannte, so soll nicht vergessen werden, daß Graf Latour doch am Laternenpfahl hing und echt und nicht lustig tot war, und daß ein marodierender Mob sich auf die Suche nach Grillparzer machte, um ihn für ein Gedicht auf Radetzky zur Verantwortung zu ziehen. Es waren die Schwestern Fröhlich, die ihn schnell aus der Schusslinie nach Baden schafften.
Tatsache bleibt also, daß es im scheinbar so friedlich und ereignislos hinfließenden Leben Grillparzers doch auch seelisch wie körperlich lebensbedrohende Situationen von größter Dramatik gab… Und Messenhauser, ein Dichterkollege, wurde ganz echt hingerichtet. Wie fühlt man sich da?
Es gab Ereignisse, die „kleiner“ anmuten, aber mich zum Nachdenken bringen, wobei mir immer bewußt ist, daß Grillparzer nie ein reicher Mann war, im Gegenteil, lange Jahre seines Lebens sehr arm, und für seinen Lebensunterhalt arbeiten mußte, während seine reiche Sonnleithner-Verwandtschaft wohl keinerlei Sorgen hatte.
Wie war das damals, als er 1812 – man muß sich immer fragen, wie alt jemand ist, er war damals 21 Jahre – in den Dienst des Grafen von Seilern trat, in der klassischen Stellung, die sich arme, gebildete junge Herren suchten, nämlich als Hauslehrer von meist des Lernens unlustigen reichen Aristokratensöhnen.
Damals nahm die Familie Grillparzer im Sommer auf ihr Landgut in Mähren mit.
Dort wurde er krank. Schwer krank. Ob Typhus, ob Nervenfieber, wir können es heute wohl kaum feststellen, aber es war lebensgefährlich.
Die Familie des Grafen kehrte nach Wien zurück und kümmerte sich nicht weiter um den Kranken, er war schließlich Bediensteter, und das waren Menschen zweiter Ordnung.
Grillparzer blieb dort in irgendeinem Nebengebäude des Schlosses liegen, und das Personal, das wohl nur Tschechisch sprach, versorgte ihn höchstens mit der nötigen Nahrung.
Kann man sich vorstellen, wie ein phantasievoller junger Mann sich in Fieber und Schmerzen gottverlassen in seinem Krankenbett wälzt? Und dann kommt noch ein Priester, vermutlich von den tschechischen Bauern in Sorge geholt, der an ihm die Letzte Ölung vollziehen will und solcherart den kommenden Tod ankündigt… Was muß Grillparzer mit seiner so lebhaften Phantasie, seinem so wachen Intellekt aus all dem machen, was rührt es innerlich in ihm um?
Kann man über so etwas in Biographien mit wenigen Zeilen hinweggehen, mit dem Hinweise, er wurde krank, glücklicherweise dank seiner zähen Natur wieder gesund, und im Jahr darauf trat er als Praktikant in die Hofbibliothek ein…?
Wäre nicht etwas mehr Nachdenken angesagt?
 

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Teil 4 morgen an dieser Stelle.