Nachdenken über Grillparzer (4)

von Renate Wagner

Franz Grillparzer 1841 - Joseph Kriehuber pinx
Nachdenken über Grillparzer (4)
 
Von Renate Wagner
 
Apropos Hofbibliothek: Der Ort seiner Sehnsucht, an dem er nicht bleiben durfte. Die einzig mögliche Stellung für einen Dichter, sollte man meinen.
Aber nein: Womit sich der Beamte Grillparzer den Großteil seines Berufslebens befasst hat, sind Akten, von denen wir viele in der Historisch kritischen Ausgabe finden – die Haare sträuben sich, wenn man die Agenda liest: Finanzen, Handel, Wirtschaft, Bergbau und Verkehr – alles, nur nicht Kunst und Literatur.
Immer wieder ersuchte er um einen Posten in der Hofbibliothek, immer wieder hat man ihn einem Mann, der sich schon zu Lebzeiten zum anerkannten Dichter entwickelte, verweigert.
O du mein Österreich.
Nun, über Grillparzers Frustrationen ist immer wieder geschrieben worden. Aber haben wir uns das plastisch je vorgestellt, wie er, des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr (das ist allerdings ein Schiller-Zitat), tagaus, tagein „unter Faszikeln“ saß? Hier ein Klafter Holz, dort eine Petition, Entscheidungen über Dinge, deren Trivialität unvorstellbar scheint.
Gewiß, mit den ewigen Göttern gemeinsam, hat er gedichtet, aber man muß sich doch diese Situation wirklich bewußt machen…
Und auch einen Schlenker in die Nachwelt: Sind wir doch heute, wenn man Hofkammerarchiv googelt, stolz darauf, „daß kein Geringerer als Franz Grillparzer (1791–1872) hier von 1832 bis 1856 als Direktor amtierte. Sein Arbeitszimmer im 2. Stock kann heute noch in seiner Originaleinrichtung besichtigt werden, samt Stehpult, an dem Grillparzer einen Teil seiner Dramen schrieb…“
Das ist das Haus, in dem wir uns für dieses Symposion befinden, heute Literaturmuseum und „Grillparzer-Haus“ benannt. Aber denken wir an die Akten, die er bearbeiten mußte – so viel Zeit zum Dichten im Amte hatte er nun auch wieder nicht…
Es gibt viele, viele bewundernswerte Interpretationen von Grillparzers Werken, und ein so großartiger Wissenschaftler wie Heinz Politzer hat eine ganze Biographie daran aufgehängt, indem er von Werk zu Werk fortschritt.
Und selbstverständlich werden auch immer die Quellen angegeben, aus denen sich der Dichter bedient hat, wobei auffällt, daß diese Schilderung von Vorlagen und Anregungen von Buch zu Buch repetiert werden.
Also– nachdenken!
Sicher sind Quellen eine Inspiration. Und auch äußere Ereignisse, die zu Entscheidungen führen, werden berichtet – etwa daß Sappho als Opernstoff an ihn herangetragen wurde.
Aber wieso sprang er auf dieses Thema dermaßen an?
Hat man sich ausreichend gefragt, wie es möglich ist, daß ein junger Mann von 25, 26 Jahren mit so unglaublicher „Seelenkenntnis“ die Geschichte einer alternden Dichterin schreibt? Woher hat er diese Dinge gewußt?
Das erinnert mich an eine wunderbare Biographie über Georg Büchner, wo der Autor nichts als gegeben hingenommen hat, nicht die Werke des Dichters als „eben entstanden“ berichtete, sondern Überlegungen anstellte, wie ein junger Mann, der mit 23 Jahren gestorben ist – ich wiederhole: Georg Büchner ist mit 23 Jahren gestorben! -, imstande war, „Woyzeck“, „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ und „Lenz“ zu schreiben? Jedes einzelne ein Kopendium von Wissen und Lebenserfahrung, jedes einzelne katapultierte Büchner in die Weltliteratur. Wie war das möglich?
Man wundert sich nicht genug.
Man fragt vielleicht nicht genug nach.
Sappho also. Grillparzer behandelte das klassische, auch im täglichen Leben aufzufindende Dreiecksproblem, im „Rosenkavalier“ steht es ganz ähnlich, die alte Frau verliert den jungen Mann an das junge Mädchen.
Aber wenn wir sehen, mit welch stupendem Verständnis ein Mittzwanziger hier die Emotionen einer älteren Frau behandelt, die noch einmal an die Liebe glauben möchte, dann hilft uns keine „Quelle“: Dann müssen wir uns fragen, woher kommt das, woher wußte er das?
Und auch: Warum interessierte ihn das?
Ich glaube fest an den biographischen Hintergrund künstlerischen Schaffens, zumal bei Schriftstellern.
Bei Arthur Schnitzler hatte ich es leicht, da läßt sich der Bezug zur Wirklichkeit bis in Details feststellen.
Ferdinand Raimund holte den Rappelkopf aus sich selbst, und wenn Johann Nestroy auch mit seiner Fließbandproduktion von Stücken viel zu beschäftigt war, um hier autobiographisch zu agieren, so wissen wir doch, daß alle skeptischen und liberalen Erkenntnisse in seinen Stücken ganz tief aus ihm selbst kamen.
Es ist nachzudenken, Stück für Stück, warum sich Grillparzer für seine Stoffe entschied, es ist zu fragen, wie alt er jeweils war, wie die Welt um ihn aussah. Und was er schreibend von sich selbst preisgab. Und mit welchem Schamgefühl er im Theater saß, um seine eigenen Werke anzusehen. ..
Über andere Details ist nachzudenken – ich persönlich wundere mich meinerseits, wenn viele seiner Biographen sich wundern, daß er bei seinem Weimar-Besuch kein zweites Mal zu Goethe ging, obwohl er eingeladen war. Ist das nicht mühelos zu erklären für einen Mann, der mit höchster Empfindlichkeit gerade die Peinlichkeit von Situationen empfand und sich diesen eher entzog als aussetzte?
Wir wissen doch – das tritt der Österreicher hin vor jeden, denkt sich seinen Teil und läßt die anderen reden. Ist das nicht schlicht und einfach Selbstschutz? Nicht zuletzt, um den blutigen Blessuren der eigenen Seele zu entgehen?
Was, denke ich manchmal, würde er über all die Versuche seiner Biographen denken…Unser indiskretes Wühlen, unser Sticheln in seinen Befindlichkeiten?
Er müsste wohl darauf beharren, was er einmal im Tagebuch schrieb – „wie, um nicht immerfort verletzt zu werden, endlich kein Mittel übrig bleibt, als sich unempfindlich zu machen…“
Würden wir ihn verletzen, wenn wir ihm zu nahe kommen? Auch das ist zu überlegen.
Immer, wenn ich im Wien Museum bin, und oft auch nur, wenn ich vorbeigehe und mir eine Viertelstunde nehme – dann begebe ich mich in den zweiten Stock und besuche das „Grillparzer“-Zimmer.
Eigentlich war es seine ganze letzte Wohnung, wie sie Kathi Fröhlich der Stadt Wien überlassen hat und wie man diese in Zeiten, als man Dichter noch geachtet hat, als Ort des Gedenkens zu bewahren versprach.
Und so ist es geschehen, und man kann hineingehen, durch das Vorzimmer, durch das er täglich mehrfach gegangen sein muß, dann links in den Raum mit den Bücherkästen. Und dann kann man – zwar nicht wirklich eintreten, aber sich dann über eine Schranke doch so weit wie möglich in das nicht sehr große Zimmer hineinlehnen, umschauen, Atmosphäre mitnehmen.
Und sich klarmachen, daß Grillparzer in diesem Zimmer die letzten 23 Jahre seines Lebens verbracht hat.
 
Er war 58 Jahre als, als er am 27. April 1849 in die Spiegelgasse Nr.1007 einzog, zweite Stiege, vierter Stock, als Mieter von Fräulein Anna Fröhlich, die mit ihren Schwestern Katharina und Josephine im anderen Teil der Wohnung lebte… und er starb hier am 21. Jänner 1872, eine knappe Woche nach seinem 81. Geburtstag.
Ein dunkler Raum mit Schreibtisch und kleinem Flügel, Bett und Sitzecke. Oft dargestellt, denn der alte Hofrat war schon sehr berühmt, auch wenn er seine neuen Stücke, die aus der Schublade, nicht mehr spielen ließ. Nicht wesentlich größer als eine Zelle, selbst gewählte Zuflucht, allerdings in idealen logistischen Verhältnissen – die Schwestern Fröhlich, die sich diskret zurückhielten, wenn der Hofrat Ruhe wollte, aber immer da waren, wenn sie gebraucht wurden, natürlich auch mit ihrem Personal für die Bedürfnisse von Wäsche, Aufräumen und was ein alter Hofrat noch so benötigt, der offenbar täglich seine vier Stockwerke hinab und wieder hinauf gestiegen ist, um im nahe gelegenen Matschakerhof zu essen, woran noch heute eine Gedenktafel mit seinem Antlitz als Relief erinnert…
Und fragen wir uns doch einmal, was das für ein Mensch war, für den in solch engem äußeren Rahmen, in dieser scheinbaren Düsternis, die vielleicht auch eine schützende „Höhle“ bedeutete, ein Habsburger Kaiser, eine böhmische Fürstin und eine schöne spanische Jüdin seine Gefährten waren???
Das sind jetzt nur wenige Beispiele dafür, wo mir neues Nachdenken über Grillparzer als Menschen und auch als Künstler angebracht wäre, Fragen, die wir heute stellen, wenn wir uns für einen Menschen interessieren.
Biographische Neugierde an jemandem, der Besonderes geleistet hat.
Wir heute fragen nach Geld, nach Vorlieben, nach Religion, nach Beziehungen, wir fragen so lange, bis wir ein rundes Bild erhalten, das natürlich auch nicht das definitive ist.
Die nächste Generation wird wieder fragen und es nach anderen Gesichtspunkten tun, die ihr wichtig sind.
 
Am Ende möchte ich Ihnen noch von einem Buch erzählen, das ich auch immer schreiben wollte – und weiß gar nicht, warum ich es nicht getan habe.
Es hätte „Toni, Kathi und Marie“ heißen sollen,
und Sie ahnen wahrscheinlich, wer die Damen sind, um die es gehen würde.
Antonie Wagner, die aufopfernde Geliebte des geschiedenen, wahrlich über die Maßen schwierigen Ferdinand Raimund, der sie nicht heiraten konnte und die doch bis zum Ende an seiner Seite blieb…
Katharina Fröhlich, die so genannte „ewige Braut“ Franz Grillparzers, die, als er sie dann doch noch heiraten wollte, diesen Antrag als zu spät und als Beleidigung abwies und doch bis zum Ende an seiner Seite blieb…
Und Marie Weiler, die Gefährtin des geschiedenen, als Mann so unzuverlässigen, als Menschen so noblen Johann Nestroy, der sie nicht heiraten konnte und die bis zum Ende an seiner Seite blieb…
Vielleicht könnte man ein solches Buch doch „Die wilden Ehen des Biedermeier“ nennen, als geradezu charakteristisches Verhaltensmuster dieser zwiespältigen Zeit.
Aber warum es mir gegangen wäre, war letztlich die synoptische Betrachtung dieser drei Männer – Raimund, Grillparzer, Nestroy – , die zur gleichen Zeit in ein- und derselben Stadt lebten und, mit Ausnahme weniger freundschaftlicher Begegnungen von Grillparzer und Raimund, nicht miteinander verkehrten.
Bei Nestroy waren es wohl Berührungsängste: Er spielte die Rollen des einen – er muß wohl ein toller Rappelkopf gewesen sein, die Rolle auch für sein grimmiges Gemüt ideal -, er parodierte die Stücke des anderen – so schrieb er einen „Dummen Diener seines Herrn“ und prügelt in seinen „Theatergeschichten“ die „Sappho“ fast zu Tode -, aber er hielt sich von den „Kollegen“ fern.
Und die drei Frauen, die in demselben Wien wohnten? Was wußten sie von einander? Wie verschränkten sich ihre Schicksale – bzw. taten es nicht in einer Stadt, die damals so groß nicht war, schon gar nicht in Theaterwelten, wo sie alle zuhause waren?
Ja, meine Damen und Herren, dafür daß ich mich eigentlich immer vor allem für Frauenschicksale interessiert habe, habe ich dann doch den größten Teil meiner Arbeitskraft den Männern zugewendet… Und vielleicht schaffe ich es noch, den heutigen Blick auf Leben, Schaffen, Zeit und Umwelt des Franz Grillparzer zu werfen.
 
 
15. Jänner 1791 in Wien - † 21. Jänner 1872 daselbst