Der Weltgeist und die Unschuld beim Verkehr auf zwei Rädern

von Wendelin Haverkamp

© Jürgen Pankarz
Der Weltgeist und die Unschuld
beim Verkehr auf zwei Rädern
 
Nicht, daß wir uns falsch verstehen: Ich hatte nicht von Anfang an was gegen Fahrräder. Ich bin früher sogar sehr gerne Rad gefahren.
Mein erstes hatte ich von meinem Patenonkel. Ein Mordsgerät! Groß, schwer und schwarz, wen wundert's, als Kaplan war er schließlich im Auftrag des Herrn unterwegs. Der hatte noch ein richtiges Politikermodell, mit eingebautem Rücktritt, sowas wird heute nicht mehr gebaut. Ein bis zwei Brüder hinten drauf, und ab über Landstraßen und Feldwege, daß die Felgen qualmten. Ach ja! Das hat schon Spaß gemacht.
Aber dann, und ich traue mich kaum, dies zu sagen, aber es muß einfach mal raus: Dann hat mich schleichend mehr und mehr eine Abneigung gegen Zweiräder aller Art ergriffen. Ich weiß, das ist völlig unverzeihlich, und ich bin mir über meine bevorstehende Ächtung durch alle gesellschaftlich relevanten Gruppen im Klaren.
Es begann vor ein paar Monaten. Ich schlurchte ganz harmlos zur Sparkasse, als ich mich plötzlich bei dem Gedanken ertappte: Wenn gleich wieder so'n Fahrradfahrer von hinten den Bürgersteig lang kommt und im Zentimeterabstand mit 40 km/h an mir vorbeirasen will...
Früher bin ich ja rechts und links weggesprungen. Hechtrolle, Überschlag, Strecksprung und Abschürfungen 3. Grades. Aber an dem Tag hab ich gedacht: Heute halte ich einfach den Regenschirm raus und: „Ja das tut mir jetzt aber leid! Hab ich Sie wohl nicht rechtzeitig kommen hören? Sorry. War keine Absicht, ich bitte Sie! Sonst hätte ich doch was Stabileres genommen.“
Schoß mir so durch den Kopf; nur als Idee natürlich! Doch von nun an wurden die Wahnvorstellungen immer stärker, und ich spürte, wie die Widerstandskraft schwand. Bald ging ich nur noch mit meinem schweren Wanderstock aus dem Haus. Handgeschnitzte Eiche mit Eisengriff, mein sogenannter „Wahl-Wanderstock“.
Das ist nämlich so: Wenn eins dieser zweigeräderten Wesen mit Integralhelm und Dumpfbacken-Sonnenbrille auf mich zuschießt, dann hole ich mit meinem Stock weit aus, und dann hat es die Wahl: Entweder anhalten oder eben nicht, und ich schlage es wie weiland Bernhard Langer am letzten Loch mit dem 12er Eisen vom Rad, daß alle Klingeln mächtig klingeln.
Also, in der Phantasie natürlich! Nicht in Wirklichkeit, um Himmelswillen. Aber schlimm genug, und deshalb bin ich seit einiger Zeit bei einer renommierten Fahrrad-Therapeutin in Behandlung und habe bereits begonnen, die richtige Einstellung zu entwickeln.
Meistens üben wir in der Gruppe. „Verkehrspolitisch korrekt denken durch verkehrspolitisch korrekt sprechen, Mittwoch und Freitag 18 Uhr in der Volkshochschule, Raum Parterre C 07, Decke bitte mitbringen“.
Und ganz langsam habe ich die historische Dimension des Bike begriffen. Es geht gar nicht um die Fortbewegung, jedenfalls nicht in erster Linie, sonst würde man ja mit dem Wagen fahren, genau; sondern es geht um die Rückgewinnung unserer Unschuld durch den Verkehr auf zwei Rädern, wenigstens ein Stück weit.
Wer hätte das `45 für möglich gehalten? Oder '68? Und wer hat den Bann gebrochen? Marcuse? Jesus? Micky Maus? Nein, das Fahrrad! Wäre der Weltgeist ein Deutscher, dann führe er Fahrrad; jenes kultische Werkzeug, mit dessen Hilfe die deutsche Schuld an der Welt durch heftiges Strampeln abgetragen wird.
Erst wenn man mit dem Damenrad von Teheran nach Jerusalem durchtrecken kann, herrscht wirklich Friede auf der Welt. Das ist die Power der „F1“, der deutschen Friedens-Wunderwaffe, und damit hat sich Deutschland endlich seinen Sitz im Sicherheitsrat verdient, selbstverständlich einen Fahrradsitz..
Und wie ich dies so sage, befällt mich eine Vision unserer fernen Zukunft: Wenn erst mal überall auf der Welt die Luft sauber ist und die Nordsee und die Medizin hat alles im Griff, und überall sind Fahrradwege angelegt und der Präsident der Weltregierung sitzt in Berlin im Reichs-Fahrrad-Hauptamt, dann wird sich die Wahrheit herausstellen, die man uns immer vorenthalten hat: Daß wir eigentlich unsterblich sind.
Der Tod war ein Gerücht! Eine Intrige von Pharmafirmen und Großkapital, präsentiert von Radio Vatikan. Und wenn es erstmal kein Ozon mehr an der richtigen und kein Methan mehr an der falschen Stelle gibt, weil wir auch den Chinesen beigebracht haben, wie man mit Kräuter-Energie-Riegeln zu 100 Prozent pupslei Fahrrad fährt, dann werden wir ewig leben - wie im Paradies!.
Billiarden von Menschen werden glücklich unterwegs sein auf Billionen von Fahrradwegen - fit for ever! Und das für immer. Das muß man sich mal vorstellen.
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.