Jahr100Wissen

Ein Gespräch mit Georg Eckert über sein Buch „Die Zwanziger Jahre“

von Uwe Blass

Georg Eckert - Foto:  UniService Transfer
Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
Die Epoche der wilden Experimente
 
Der Historiker Dr. Georg Eckert und sein Buch „Die Zwanziger Jahre“ im Jahr100Wissen-Interview

Herr Eckert, Sie haben vor kurzem das Buch „Die Zwanziger Jahre:Das Jahrzehnt der Moderne“ herausgebracht. Darin schreiben Sie im Kapitel „Der neue Mensch: Das Wesen der Moderne“, daß die Zwanziger Jahre eine neue Welt waren. Was meinen Sie damit?
 
Eckert: Die Zeitgenossen erlebten einen rapiden Umbruch, auch und gerade im Alltag: Betonbauten, Leuchtreklamen, Radio, Automobile und vieles andere veränderten das Leben – neue Standards kamen auf, die sich bis heute gehalten haben: zum Beispiel das DIN A4-Format, die Rolex, das „Kleine Schwarze“. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, so schien es fast allen, hatte eine neue Epoche begonnen. Die „Welt von gestern“, wie sie Stefan Zweig später in seinen Memoiren titulierte, war offenkundig untergegangen – zum Entsetzen derjenigen, die sich in der alten Ordnung wohl gefühlt hatten, und zur Begeisterung derjenigen, die schon länger auf eine grundlegende Erneuerung von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gedrungen hatten. Zweig nannte die Zwanziger Jahre „eine Epoche wildesten Experimentierens“, die auch den Menschen selbst zum Gegenstand hatte. Daß zu dieser neuen Welt eben nur ein neuer, körperlich wie geistig gewandelter Mensch passe, war eine weitverbreitete Überzeugung; nicht wenige glaubten gar, eine Verbesserung des Erbguts der Menschheit anstreben zu sollen, mit teils fatalen Folgen.
 
Interessant ist auch ein Zitat von Rainer Maria Rilke über die Ungewissheit eines neuen Zeitalters, als er schrieb: „Der Krieg hatte immer eine Marke, aber das Jetzige ist gesichtslos, ist anonym, ist ein Geschehen ohne Oberfläche, ein Brodeln, Kochen und Drängen, das höchstens durch die allgemeine Müdigkeit eine Grenze und Einfassung hat“. Stehen wir nicht heute, 100 Jahre später und ein Jahr nach einer verheerenden Pandemie, wieder an der gleichen Stelle?
 
Eckert: Niemand steigt zweimal in denselben Fluß, das gilt auch für den Strom der Weltgeschichte. Man kann es übrigens auch am Umgang mit Pandemien sehen: Die meisten Zeitgenossen empfanden die Spanische Grippe, die weitaus mehr Todesopfer kostete als der Erste Weltkrieg, als weniger einschneidend als wir die Corona-Pandemie. Daß uns die Zwanziger Jahre heute so vertraut anmuten, liegt daran, daß in ihnen jene Probleme so sichtbar werden, die seither für die (westliche) Moderne so charakteristisch sind: insbesondere das Gefühl, in einer anonymen Gesellschaft haltlos einem immer schnelleren Wandel ausgeliefert zu sein, dem der Einzelne kaum entkommen, geschweige denn: ihn bestimmen kann. Die Ermüdungserscheinungen, die Rilke hier thematisierte, begleiten uns bis heute – ebenso wie umgekehrt die Faszination für all die neuen Möglichkeiten.
 
Sie sprechen in diesem Kapitel auch von der zeitgenössischen Erlösungssehnsucht der Menschen hin zu etwas Neuem. Aber zu was?
 
Eckert: Die Hoffnungen der Zeitgenossen wiesen in teils entgegengesetzte Richtungen; einig waren sie sich nur darin, daß es so wie bisher nun einmal nicht weitergehen könne – zu groß waren die offenkundig ungelösten Problem der alten Welt. Selbst diejenigen, die mit der neuen Welt haderten, wußten darum, daß es eine Rückkehr zur alten nicht geben würde. Manche setzten auf eine hochtechnisierte, internationale Zukunft, die etwa in Betonhochhäusern konkrete Gestalt annahm, manche suchten ihr Heil im Vertrauten und bauten lieber im „Heimatschutzstil“. „Bauhaus“-Künstler wie Johannes Itten sahen gerade keinen Widerspruch darin, neuartige Gestaltungsideale und Fertigungsverfahren mit alten fernöstlichen Weisheitslehren zu verbinden – für andere unvereinbare Alternativen, doch es gab eben viele „Crossovers“. Oder, um ein anderes Beispiel zu geben: Reformkostgeschäfte boomten ebenso wie Erlebniskaufhäuser, die einen erfreuten sich an einem ungezügelten Konsum, die anderen konsumierten den Konsumverzicht – die erste Waldorfschule wurde im Jahre 1919 eröffnet, im gleichen Jahr, in dem der US-Kongress die Einführung der Prohibition beschloss.
 
Schon im Ersten Weltkrieg mußten sich die Menschen der vorrückenden Technik stellen. Sie schreiben, daß die ersten Kampfpiloten sich bezeichnenderweise auch „Ritter der Lüfte“ nannten. Die Digitalisierung heute verlangt den Menschen erneut eine moderne Anpassung ab. Wie schwer fiel es den Zeitgenossen, das Alte abzulegen?
 
Eckert: Das Ende von Traditionen kann sowohl befreiende als auch einengende Wirkungen haben, heute wie damals. Zu den vielen Faktoren, von denen die Akzeptanz des Neuen abhängt, gehören Überzeugungen und Interessen: Ein Zimmermann konnte einem Betonflachdach naturgemäß wenig abgewinnen, für einen Hersteller von Kutscherpeitschen mußte die Fließbandfertigung von Automobilen unweigerlich eine Bedrohung darstellen, selbst wenn er davon irgendwie fasziniert sein mochte, und in der hektischen Großstadtkultur der „Roaring Twenties“ und ihrer Ablehnung steckte auch ein Generationenkonflikt – ebenso heute in manchen digitalen Erlebniswelten. Disruption findet ja auch nicht jeder gut.
 
Die Gefahr, die sich aus dem Ablegen der alten Traditionen, hin zu neuen Werten ergab, zeigte sich auch im Erblühen des Nationalsozialismus. Auch 100 Jahre später haben wir in Krisensituationen wieder mehr mit Rechtsextremismus zu tun, dabei sollten wir doch aus der Geschichte lernen. Was passierte damals in den gesellschaftlichen Erneuerungsphasen?
 
Eckert: Der Aufstieg des Nationalsozialismus, der sich vielfach eher alte Ressentiments mit neuen Propagandamitteln zunutze zu machen verstand, war mitnichten die einzig mögliche Folge der Zwanziger Jahre. Sie waren auch in der Politik eine Phase des Experimentierens; die Weimarer Republik erwies sich zunächst als bemerkenswert stabil, Hitlers Putsch im November des Jahres 1923 scheiterte auf geradezu blamable Weise. Auch in der Tschechoslowakei beispielsweise entstand eine gefestigte Demokratie (die es in den USA, in Großbritannien, in Frankreich und anderen Ländern ohnehin gab). Aber Zeitgenossen setzten ihre Hoffnungen auch auf andere politische Systeme. Deren Spektrum reicht von Rätesystemen, die in der Sowjetunion indes rasch in eine Diktatur Stalins übergingen, bis hin zu autoritären Herrschaften, wie man sie seinerzeit beispielsweise in Polen, in Ungarn oder in Italien finden kann. Inmitten der gewaltigen Umbrüche waren für viele jene Bewegungen attraktiv, die ganz konkrete Sicherheiten und einfache Gewissheiten anboten. Das gelang im Deutschland der Weltwirtschaftskrise insbesondere der NSDAP, die alle Übel dem „System“ anzukreiden wußte. Ideale wie die „Volksgemeinschaft“ gaben vielen das Gefühl, inmitten eines als bedrohlichen Wandels endlich festen Halt zu finden. In dieser Hinsicht erleben wir heute eine ähnliche Konstellation, in vielen anderen indes sind die Unterschiede groß.
 
Einigkeit über politische Grenzen hinaus, schreiben Sie, bestand jedoch darin, daß der neue Mensch ein Tatmensch sein sollte. Was ist ein Tatmensch?
 
Eckert: Im Ideal des Tatmenschen bündelten sich teils sehr gegensätzliche Anliegen, die indes einem ähnlichen Prinzip verpflichtet waren: nämlich demjenigen, daß es darauf ankomme, das als richtig Empfundene mutig auch gegen enorme Widerstände durchzusetzen – geredet sei genug, nun müsse gehandelt werden. Dabei rücksichtslose Brutalität gegen sich selbst und gegen andere zu üben, galt vielen als rühmlicher Beweis unbedingten, männlichen Entschlossenseins. Das Spektrum verherrlichter „Tatmenschen“ reichte von einem Kult der politischen Gewalt, die sich in Attentaten und Straßenschlachten äußerte, bis hin zur Begeisterung für Pioniertaten wie Charles Lindberghs Atlantiküberquerung mit dem Flugzeug. Freilich karikierten andere Zeitgenossen solche Heldenverehrung, indem sie statt großer Helden kleine Leute zu Protagonisten machten: etwa James Joyce seinen „Ulysses“ oder Hans Fallada seinen „Kleinen Mann“.
 
Emanzipation war in der Weimarer Republik auch großgeschrieben. Frauen erlangten das Wahlrecht und durften wie ihre männlichen Kommilitonen gleichberechtigt studieren. Woher kam dieses neue Selbstbewußtsein und wie zeigten die Frauen es in der Öffentlichkeit?
 
Eckert: „Die“ Frauen gab es in der Weimarer Republik ebensowenig wie „die“ Männer; eine gleiche Zulassung zum Studium bedeutete ja mitnichten, daß Frauen an den Universitäten keine Nachteile mehr erlitten hätten. Wenn wir heute an selbstbewußte Frauen jener Jahre denken, dann sehen wir vor uns schlanke, sportliche, oftmals androgyne Gestalten in eher strengen, „männlich“ anmutenden Kleidern (emblematisch der schmal geschnittene Hosenanzug, gar mit Krawatte getragen), meist mit ebenfalls ehedem als maskulin empfundenen Kurzhaarfrisuren wie dem epochemachenden Bubikopf, mit einer Zigarettenspitze in einem bisweilen grell geschminkten Mund – Marlene Dietrich war so eine Stilikone der Zwanziger Jahre, und ein Film wie „Die drei von der Tankstelle“ (1930) machte die Provokation vollkommen, wenn eine reiche junge Frau in einem eleganten, schnellen Sportwagen von drei mittellosen Junggesellen bedient wird. Tatsächlich hatte dieses neue Selbstbewußtsein auch eine ökonomische Dimension, insbesondere Verkäuferinnen in Kaufhäusern oder Büroangestellte zeigten sich in einem neuen Rollenbild: demjenigen der ledigen – und dadurch nicht etwa unvollständigen – Angestellten, die sich mit ihrem eigenen, selbst erarbeiteten Geld ihre eigenen Vergnügungen gönnte. Aber das war keineswegs die Realität aller Frauen, sondern vor allem eine (groß-)städtische Lebensform.   
 
Wenn man über die „Roaring Twenties“ liest, hat man oft den Eindruck, daß sich alles nur in den Großstädten abspielte. Wie zeigte sich der neue Mensch denn in der Provinz?
 
Eckert: Wie sehr die Großstädte als Orte der Zukunft galten, zeigt die Aufmerksamkeit, die ihnen ihre größten Bewunderer ebenso wie ihre schärfsten Kritiker zuteilwerden ließen. Inwiefern die Moderne über die Metropole hinauswuchs, hing von den jeweiligen Umständen und Protagonisten ab. In der Sowjetunion, so könnte man sagen, wurde eigentlich die Provinz zum bevorzugten Ort des neuen Menschen: jedenfalls insofern, als dort im Rahmen der massiv vorangetriebenen Industrialisierung mitten im Ural riesige Traktorenwerke samt hochmodernen, nach ambitionierten Generalplänen erstellen Wohnsiedlungen errichtet wurden: für die kommunistische Variante des neuen Menschen. In welchem Maße der neue Mensch auch andernorts ankam, dafür ist überhaupt die Architektur ein guter Indikator: Selbst im ländlichen Ostpreußen, das im Ersten Weltkrieg teils schwer zerstört worden war, hat das „Neue Bauen“ der Zwanziger Jahren bis heute sichtbare Spuren hinterlassen – und das berühmte „Bauhaus“ war zunächst in Weimar, dann in Dessau angesiedelt: beides bedeutende Städte, aber gewiß keine Metropolen.
 
Die Freizeitgestaltung für die Neuen Menschen nahmen immer ausschweifendere Züge an. Was konnte man denn damals so alles anstellen?

Eckert: Man müßte beinahe fragen, was man nicht hätte anstellen können: Fritzi Massary erzielte mit dem Chanson „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ (aus der Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“, Anm. d. Red.) noch im Jahre 1932 einen gewaltigen Publikumserfolg. Überhaupt war der Gestus der Ausschweifung – Francis Scott Fitzgeralds Bücher wie „Der große Gatsby“ und sein Leben zeugen davon – bisweilen wichtiger als die Ausschweifung selbst. Jedenfalls dürfen wir uns die Zwanziger Jahre keineswegs als pausenlose Ekstase vorstellen. Aus Sicht mancher Kritiker war es ja schon eine Ausschweifung, wenn große Kaufhäuser zu immer erschwinglicheren Preisen einem Massenpublikum so manche Waren anboten, die zuvor nur Luxusgüter gewesen waren – die Kulturrevolution fand vor allem im Alltag statt. Er eröffnete neue Möglichkeiten. So wurden Kinos wichtige Erlebnisorte der Moderne, nun auch dank Farb- und Tonfilm, in großen Konzertsälen spielten Ensembles wie die Comedian Harmonists auf, aus den USA kamen die neuartigen Musicals – hierzulande nannte man sie „Musikrevuen“ – ebenso herüber wie neue Jazz-Klänge. Vergnügungsparks entstanden, so wurde z.B. im Wiener Prater eine Liliputbahn eröffnet, im „Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz in Berlin konnte man eine Vielzahl von Themenrestaurants (etwa vor Rheinkulisse inklusive Blitz, Donner und Regenguß) besuchen. Doch neben großen Spektakeln wie Autorennen gab es eben auch spektakuläre Neuerungen im Kleinen: zum Beispiel ein Bauboom für Hallen- und Freibäder, die auch ärmeren Bevölkerungsschichten offenstanden – was für die einen der Förderung der „Volksgesundheit“ diente, wie man es damals nannte, bedeutete für die anderen ganz neue Freizeitmöglichkeiten. Daß es für Arbeiter überhaupt Freizeit gab, dafür sorgte übrigens unter anderem die Einführung des Achtstundentages im Jahre 1918.

Schon damals beeinflußte Amerika mit seinem Lebensgefühl und Konsumverhalten das alte Europa der Zwanziger Jahre. Aber nicht alle waren damit einverstanden. Wann kippte die Stimmung und wie veränderte sich der neue Mensch?
 
Eckert: Die Vereinigten Staaten waren gelobtes und gefürchtetes Land zugleich; die amerikanische Industrie gab weltweit ein Vorbild an Effizienz, übrigens auch die Film-Industrie mit der neuartigen „Traumfabrik“ Hollywood, mit der Entstehung einer konsumfreudigen Mittelschicht schienen sich die Versprechungen der Moderne zu erfüllen – die USA orientierten sich nicht mehr an Europa, eher orientierten sich viele Europäer nunmehr an den USA. Kritische Stimmen dazu gab es viele, aber den einen Wendepunkt kann man kaum identifizieren: Die Interessenlagen waren zu komplex. Am ehesten wäre wohl die Weltwirtschaftskrise zu nennen, mit der die
Zwanziger Jahre ein düsteres Ende fanden: Sie bestätigte viele Vorbehalte auch gegen die amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – und der neue Protektionismus der Dreißiger Jahre wurde vielfach als heilsame Isolierung inszeniert: hier konsumierte der neue Mensch bisweilen nicht mehr, sondern bewies seine Stärke im Verzicht.


Georg Eckert – „Die Zwanziger Jahre. Das Jahrzehnt der Moderne“
© 2020 Aschendorff, Münster, 340 Seiten, gebunden, umfangreich bebildert und mit Karten – ISBN: 978-3-402-24632-0
24,80 €
 
Uwe Blass
 
Dr. Georg Eckert studierte Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Studie über die Frühaufklärung um 1700 mit britischem Schwerpunkt promoviert wurde, und habilitierte sich in Wuppertal. 2009 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte und lehrt heute als Privatdozent in der Neueren Geschichte.

Redaktion: Frank Becker