Jahr100Wissen

Prof. Dr. Peter Imbusch zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

von Uwe Blass

Sophie Scholl, 1941

Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
100. Geburtstag von Sophie Scholl
 
Jahr100Wissen-Interview mit dem Soziologen Prof. Dr. Peter Imbusch

Am 09. Mai 1921 wurde Sophia Magdalena Scholl, später bekannt als Sophie Scholl, in Forchtenberg (Baden-Württemberg) geboren. Sie starb mit 21 Jahren durch die Nationalsozialisten. Wer war diese Frau?
 
Imbusch: Die Biographie von Sophie Scholl ist angesichts ihres kurzen Lebens schnell erzählt. Diese Frau war zuvörderst ein junges Mädchen, welches sich angesichts des immer sichtbarer werdenden Unrechts der Nationalsozialisten langsam politisiert und deren Leben heute für Widerstand, Mut und Freiheitswillen steht. Sie wuchs zusammen mit ihren Geschwistern Inge (1917-1998), Hans (1918-1943), Elisabeth (1920-2020) und Werner (1922-1944) bis 1930 in Forchtenberg, später dann in Ludwigsburg und ab 1932 in Ulm in einem bürgerlich-konservativen Elternhaus auf. Dort wurde sie durch ihre Mutter Magdalena, die bis zu ihrer Heirat Diakonisse gewesen war und ihren Vater Robert Scholl, der liberal gesinnt war, zu christlichen Werten erzogen.
Sophie Scholl war klug, lebenslustig, vielseitig talentiert und trat ebenso beherzt wie kompromißlos für ihre persönlichen und politischen Überzeugungen ein. Sie hatte Freude an Musik, spielte selbst Klavier, war kunstinteressiert und selber eine gute Zeichnerin. Wie wir aus den Biographien von Maren Gottschalk und Robert Zoske wissen, war sie eine Frau, die lebte, liebte, zweifelte, und auch launisch sein konnte.
Nach dem Abitur 1940 begann sie zunächst eine Ausbildung als Kindergärtnerin, um dem Reichsarbeitsdienst zu entkommen, was ihr allerdings nicht gelang. 1942 ist sie dann zum Biologie- und Philosophiestudium nach München gezogen. Dort kam sie rasch in den Freundeskreis ihres Bruders Hans, der Hitler und sein Regime ablehnte. Von dort war der Weg in die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ nicht mehr weit. Ihr dortiges Engagement kostete sie schließlich ihr Leben.
 
Wie entstand ihr politisches Engagement?
 
Imbusch: Ihr politisches Engagement hat sich erst peu à peu herausgebildet, wobei ihre christlich-humanistische Erziehung dazu sicherlich beigetragen hat. Die Mitglieder der „Weißen Rose“ kamen ja alle aus eher konservativ-bürgerlichen Elternhäusern mit christlicher Prägung. Sophie Scholl war zunächst – wie auch ihr Bruder Hans – noch eine begeisterte Anhängerin der nationalsozialistischen Jugendbewegung gewesen. Sie hingen insbesondere dem von den Nationalsozialisten propagierten Gemeinschaftsideal an, so daß sie 1934 den Ulmer Jungmädeln beitrat und bald auch ‚Führungsaufgaben‘ übernahm. Dieses Engagement kollidierte jedoch sukzessive mit den Idealen der im Dritten Reich verbotenen Bündischen Jugend, die eine große Rolle in ihrem Leben und Denken spielte. Wegen ihrer „bündischen Umtriebe“ gerieten sie bald mit dem Gesetz in Konflikt, wurden 1937 kurzzeitig von der Gestapo verhaftet. Ein Jahr später verlor Sophie Scholl ihre Position als Gruppenführerin. Jetzt entdeckte sie zunehmend Widersprüche zwischen der Parteilinie und dem eigenen liberalen Denken, so daß man vielleicht sagen kann, daß es persönliche Überzeugungen und negative Erfahrungen mit dem NS-Staat waren, die sie schon früh zur kritischen Beobachterin des Regimes werden ließ. Die endgültige Festigung ihrer Überzeugungen erfolgte dann im Rahmen ihres Studiums in München, wo sie Vorlesungen des Philosophieprofessors Kurt Huber besuchte, in denen so grundlegende Fragen diskutiert wurden, ob und inwiefern Christen als politisch denkende Menschen auch als handelnde Subjekte gefordert sind. Sophie Scholl wurde zudem von den Arbeiten des katholischen Publizisten Theodor Haecker beeinflußt, der unter den Nationalsozialisten nicht mehr publizieren durfte. All das verband sich schließlich in ihrem neuen Freundeskreis zu einem Bündnis im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur.
 
Sie gilt als Mitbegründerin der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, die stark christlich orientiert war. Was taten sie?
 
Imbusch: Den innersten Kreis der „Weißen Rose“ bildeten neben Hans und Sophie Scholl noch Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber. Darüber hinaus gab es eine Reihe weiterer Mitarbeiter und ein größeres Umfeld von Unterstützern, damit sie ihre Aktionen überhaupt durchführen konnten. Die Gruppe verfaßte und verteilte auf geheimen Wegen zunächst in der Region München, später dann über Kuriere in anderen Städten Süddeutschlands insgesamt sechs Flugblätter, in denen sie die Verbrechen des Regimes thematisierten und zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufriefen. In der Schlußphase ihres Bestehens versuchte die „Weiße Rose“ auch Kontakt zu anderen Widerstandsgruppen und oppositionellen Kreisen aufzubauen.
In den im Sommer 1942 und zu Beginn des Jahres 1943 verbreiteten Flugblättern gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime, forderten sie zunächst zum passiven Widerstand, bald aber auch zum Sturz der Regierung auf. Die ersten vier „Flugblätter der Weißen Rose“ wurden von Hans Scholl und Alexander Schmorell zwischen Ende Juni und Mitte Juli 1942 geschrieben und verbreitet. Die Auflage war mit je 100 Exemplaren, die v.a. an Schriftsteller, Professoren und Buchhändler aus München und Umgebung geschickt wurden, noch relativ gering. Während Scholl und Schmorell im ersten Flugblatt noch forderten: „Leistet passiven Widerstand, wo immer Ihr auch seid!“, ging es im zweiten schon rabiater zur Sache: Es sei höchste Zeit, „diese braune Horde auszurotten“, heißt es dort. Im dritten Flugblatt folgten dann konkrete Handlungsanweisungen für einen Regierungssturz mittels Sabotage in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Angesichts der Massenmorde an Juden und Polen, die sie ebenfalls im zweiten Flugblatt anprangerten, verdeutlichten sie zugleich die Mitschuld der Deutschen, die dieses Unrecht still ertrugen, anstatt es aktiv zu bekämpfen. Ende Januar 1943 erschien das fünfte Flugblatt, an dem jetzt auch Christoph Probst und Sophie Scholl sowie Willi Graf und Kurt Huber beteiligt waren. Darin riefen sie die Bevölkerung nochmals zum Handeln auf, betonten angesichts der Kriegsverlaufs, daß „Hitler … den Krieg nicht gewinnen, (sondern) nur noch verlängern (kann)!“ Nun wurden in mühsamer nächtlicher Arbeit insgesamt 6000 bis 9000 Abzüge hergestellt. Das Gros verteilte die Gruppe eines Nachts in einer riskanten Aktion in München, der Rest wurde in sechs süddeutschen und österreichischen Städten verteilt. Die erhoffte Reaktion blieb jedoch aus.
Die Niederlage in Stalingrad und die öffentlichen Proteste an der Universität München angesichts einer Rede der Gauleiter Mitte Januar waren für die Widerständler der Anlaß für ein sechstes Flugblatt, mit dem sie ihre Kommilitoninnen mobilisieren wollten. Darin wurden die jungen Menschen zum Aufstand gegen die Hitler-Diktatur aufgerufen. Während ein Teil der Flugblätter Mitte Februar wieder per Post verschickt wurde, transportierten Sophie und Hans Scholl die restlichen am 18. Februar in die Universität, wo sie sie vor den Hörsälen auslegten und auch stapelweise vom zweiten Stock in den Lichthof der Universität warfen. Bei dieser Aktion wurden sie jedoch entdeckt und verhaftet.
 
Aus welchem Grund wurde Sie mit Ihrem Bruder Hans Scholl verhaftet?
 
Imbusch: Zum damaligen Zeitpunkt war die „Weiße Rose“ eine ernstzunehmende subversive Kraft und die Studentin Sophie Scholl zu einer Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus geworden. Das NS-Regime war jedoch bestrebt, jegliche Opposition und jedweden Widerstand möglichst im Keim zu ersticken. Die Flugblätter der Gruppe waren hochpolitisch und standen der Ideologie des Nationalsozialismus diametral entgegen, sie wollten die Bevölkerung aufrütteln und waren unverhohlene Aufforderungen zum Widerstand. Ein solches Vorgehen lassen sich Diktaturen und autoritäre Regime – zumal wenn sie sich im Niedergang befinden – in der Regel nur solange bieten, bis sie dessen Urhebern endlich habhaft werden. Nachdem Polizei und Geheimdienste nach dem vierten Flugblatt intensiv nach den möglichen Verfassern suchten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mitglieder der „Weißen Rose“ entdeckt und verhaftet wurden.
 
Der Schauprozeß gegen Hans und Sophie Scholl fand nach vier Tagen statt. Der sogenannte Blutrichter Roland Freisler verurteilte beide Geschwister zum Tode. Was haben sie bewirkt?
 
Imbusch: Alle Prozesse gegen die Mitglieder der „Weiße Rose“ sowie später auch gegen deren Unterstützer fanden vor dem sogenannten Volksgerichtshof von Roland Freisler statt. Der Volksgerichtshof war ein politisches Gericht, dessen Aufgabe es nicht war, Recht zu sprechen, sondern die politischen Gegner des Dritten Reiches zur Strecke zu bringen. Er war ein Musterbeispiel für politische Justiz, in der Menschen nicht wegen konkreter Straftaten, sondern wegen ihrer Gesinnungen bestraft wurden. Der Volksgerichtshof war ein politisches Machtinstrument, ein rechtsstaatliches Verfahren im Grunde ausgeschlossen.
Nach ihrer Verhaftung haben Hans und Sophie Scholl ihre Beteiligung an der „Weißen Rose“ zunächst geleugnet, später dann gestanden, die Urheber der Flugblatt-Aktionen gewesen zu sein. Vier Tage nach ihrer Festnahme machte der Volksgerichtshof den beiden den Prozeß und klagte sie wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung“, „Vorbereitung zum Hochverrat“ und wegen „Wehrkraftzersetzung“ an. Die Angeklagten hätten „in Flugblättern zur Sabotage der Rüstung“ und zum „Sturz der nationalsozialistischen Lebensform“ aufgerufen, „defätistische Gedanken propagiert“ und „den Führer aufs gemeinste beschimpft und dadurch den Feind des Reiches begünstigt“. Entsprechend war es wenig überraschend, daß beide zum Tode verurteilt und am selben Tag durch das Fallbeil hingerichtet wurden. Sophie Scholl wurde gerade mal 21 Jahre alt. Nach ihrer Hinrichtung verfolgte die Gestapo weitere aktive Sympathisanten der „Weißen Rose“ und man sprach auch gegen sie Todes- oder hohe Freiheitsstrafen aus.
 
Wir erinnern uns heute an diese mutigen Menschen. Was haben sie bewirkt? Wie steht es um das Gedenken an Sophie Scholl und die „Weiße Rose“?
 
Imbusch: Am 9. Mai wäre Sophie Scholl 100 Jahre alt geworden. Das Gedenken an die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und an das mutige Handeln von Sophie Scholl ist über die Jahre hinweg sehr lebendig gewesen und bis heute aktuell. Etliche Straßen, Plätze und Wege in Deutschland sind nach den Geschwistern Scholl benannt; schon 1968 wurde das politikwissenschaftliche Institut der LMU München in Geschwister-Scholl-Institut umbenannt; ihr Wirken ist in Filmen, Theaterstücken und Ausstellungen festgehalten. Zum 100. Geburtstag gibt es nun eine 20-Euro-Gedenkmünze und die Post bringt eine Sondermarke heraus.
Allerdings ist in neueren Veröffentlichungen zur Person Sophie Scholl auch darauf hingewiesen worden, daß sie zu einer klischeebehafteten Person geworden ist, die häufig auf ein paar Schlagworte (wie Freiheit, Widerstand, Mut) reduziert werde, was der komplexen Persönlichkeit Sophie Scholls nicht gerecht wird. Zur Ikonisierung einer Person gehört ja in der Regel auch immer eine mythische Überhöhung, die meist mit einer Vereinfachung einhergeht, welche die Widersprüche und Ambivalenzen einer Persönlichkeit nicht hinreichend zu erfassen vermag. Je weiter solche Prozesse voranschreiten, desto größer werden auch die Gefahren der Instrumentalisierung und Vereinnahmung ihrer Person, wie wir sie in jüngster Zeit häufiger erlebt haben. Das Gedenken an eine Person ist ja immer auch ein Ringen um die Deutungshoheit. Und dieses muß heute leider gegen perfide Vereinnahmungsversuche durch die AfD, die Querdenker-Bewegung oder das selbsternannte und berühmt gewordene Opfer „Jana aus Kassel“ verteidigt werden.
 
Uwe Blass
 
Prof. Dr. Peter Imbusch studierte Soziologie, Politikwissenschaften, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Volkswirtschaftslehre und promovierte zur Sozialstrukturanalyse Lateinamerikas. Er habilitierte sich 2001. Seit 2011 lehrt er als Professor für Soziologie, insbesondere Soziologie der Politik an der Bergischen Universität.
 
Redaktion: Frank Becker