Der alte Mann (26)

Vom großen Zusammenspiel

von Erwin Grosche

© Joachim Klinger

Vom großen Zusammenspiel
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war Mai und zu kalt für die Jahreszeit. Er hatte einen dicken Pullover an und trug einen Schal. Wie schnell friert man und ist erkältet? Sein Hund lief den Weg entlang, der durch den Kleingartenverein „Im Samtfelde“ führte. Hinter ihm war das Tor zu, und vor ihm war der Ausgang, der immer geschlossen war, so konnte er den Hund frei laufen lassen. Natürlich gab es Schilder, dass man den Hund an die Leine nehmen sollte, aber einem kleinen Hund sieht man gern beim Laufen zu und freut sich, wenn er bellt. „Eigentlich“, dachte der alte Mann, „müsste auf dem Schild stehen. „Wilde, böse und nervige Hunde bitte anleinen“. Das wäre eindeutiger.“ Der alte Mann wollte eigentlich zum Monte Scherbelino, wo die anderen Hundebesitzer auf der großen Wiese warteten. Da konnte man über Gott und den neuen Trainer vom SCP reden und die Hunde tobten herum. Er war gerade am Vereinshaus der Kleingartenkolonie vorbei gekommen, als er eine Trompete hörte. Konnte das sein? Spielte da jemand Trompete? Er erkannte nicht die Melodie, aber sie war so schön, dass er gleich den grauen Maitag vergaß und den Klängen folgte. Er rief seinen Hund. Gemeinsam gingen sie durch das grüne Törchen, das zum Gang durch den Technologiepark einlud. Er brauchte nur der Melodie zu folgen und landete beim Parkdeck vor der Großbaustelle. Er sah sofort den Trompeter, da nur ein Auto dort parkte. Der Mann saß auf dem Beifahrersitz seines Audis und hatte die Tür weit geöffnet. So setzte er die Trompete an und spielte auf. Beschwingten Schrittes ging der alte Mann vorbei und lauschte den Klängen. Er stand bald auf der auf der Verlängerung der Husener Straße und staunte nicht schlecht, als er dort, kurz hinter der Brücke, die über die B 64 führte, einen Schlagzeuger wahrnahm. Er saß auf der linken Straßenseite vor einer kleinen Trommel, einer Snare Drum, und bearbeitete das Fell mit den Trommelstöcken. Der alte Mann blieb stehen und nahm seinen Hund an die Leine, damit er nicht alleine die Brücke überquerte. Er schloß die Augen und lauschte. Das war der Sound der Stadt. Unter der Brücke rauschten die rasenden Autos vorbei, über der Brücke spielte dazu der Schlagzeuger einen treibenden Groove, und vom Parkdeck verirrten sich zu ihm die einsamen Töne des Trompetenspielers. Welch ein Zusammenspiel, welch ein Lied. Jetzt fehlte nur noch ein Sänger. „Kannst du kein Stern sein am Himmelszelt, sei eine Leuchte, die alles erhellt“, sang der alte Mann. Gott fuhr mit einem E-Roller an ihm vorbei. Er blieb genau dort stehen, wo alle Klänge der Stadt zusammenliefen. Er klatschte und dachte erfreut: „Das Zusammenspiel der Menschen ist nicht zu vermeiden.“ 
 
© 2021 Erwin Grosche