Schaumzucker aus der Mäusefabrik

Ein Gespräch mit der Lebensmittelchemikerin Prof. Dr. Julia Bornhorst

von Uwe Blass

Julia Bornhorst  -Foto © Sebastian Jarych
Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
Schaumzucker aus der Mäusefabrik
 
Ein Jahr100Wissen-Gespräch mit der Lebensmittelchemikerin
Prof. Dr. Julia Bornhorst
 
Vor 100 Jahren erschuf der Traditionsbetrieb Aseli in Berlin, der sich auch Original Berliner Mäusefabrik nennt, die aus Marshmallow bestehenden weißen Mäuse. Woraus besteht Marshmallow überhaupt?
Bornhorst: Marshmallow ist eine Schaumzuckerware. Der Hauptanteil mit fast 75% nimmt Zucker ein. Zudem sind weitere Inhaltstoffe, wie zum Beispiel Eischnee, Geliermittel sowie Aroma- und Farbstoffe darin enthalten. Das sind alles Zutaten, die auch in vielen Haushalten zu finden sind. Man kann Marshmallows daher auch selber machen. Die Zutaten sind Speisestärke, Puderzucker, Pflanzenöl, Gelatine, Vanillezucker, eine Prise Salz, Wasser und eventuell flüssige Lebensmittelfarbe, die ein schönes Marmormuster entstehen läßt. Dazu gibt es verschiedenste Rezepte.
 
Ursprünglich wurden Marshmallows aus dem Saft der Wurzeln des Echten Eibischs (Althaea officinalis) hergestellt. Um welchen Teil der Pflanze handelt es sich dabei?
Bornhorst: Früher hat man den Saft des Echten Eibischs als Geliermittel genutzt. Der Name Marshmallow leitet sich von der englischsprachigen Bezeichnung marsh mallow (deutsch: Sumpf-Malve) für den Eibisch ab. Der Echte Eibisch ist eine aufrechte, mehrjährige, krautige Pflanze mit kräftigen Sproßachsen (Stengeln). Für Marshmallows wurden sowohl die Stengel und Blätter als auch die Wurzeln verwendet. Später wurden die Marshmallows mit Gummi arabicum, einer Absonderung der Akazienbäume hergestellt. Heute wird aus Kostengründen meist Gelatine als Geliermittel verwendet, es sind aber auch Marshmallows mit koscherer Fischgelatine oder pflanzlichem Geliermittel (Agar, Carrageen) erhältlich sowie Produkte, die ganz auf Geliermittel verzichten.
 
Eibisch wurde vor der Nutzung als Naschzutat schon zu medizinischen Zwecken verwandt. Welche waren das?
Bornhorst: Hauptsächlich hat man den Eibisch aufgrund seiner Eigenschaft als Schleimstoff benutzt. Dabei hat man festgestellt, daß diese Schleimstoffe einhüllend, reizmildernd und lindernd sind. Im Tierversuch konnte man die entzündungshemmende und immunstabilisierende Wirkung auch nachweisen. In der Antike galt Eibisch als heilsam gegen Geschwulste und Eingeweideschmerzen, und im Kräuter- und Heilpflanzenführer von David Hoffmann kann man die Wurzel des Eibischs z.B. bei Verdauungsstörungen oder Hautentzündungen verwenden, die Blätter bei Beschwerden mit der Lunge und der Harnwege und bei äußerlicher Anwendung sei er auch hilfreich bei Problemen mit Krampfadern und Furunkeln.
Der Ausschuß für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hat gerade eine Monographie zur Eibischwurzel veröffentlicht. Darin werden die traditionellen Indikationen für verschiedene Zubereitungen bestätigt, also zum Beispiel als reizlinderndes Arzneimittel bei Entzündungen des Mund- und Rachenraums, zur Minderung des Hustenreizes und bei leichten Entzündungen im Magen-Darm-Bereich.
 
Heute wird Eibisch meist durch Schweinegelatine ersetzt. Marshmallows kann man auf einem Stock über offenem Feuer schmelzen, in Miniform in Kakao einstreuen oder in schokolierter Form essen. Wie „un“ -gesund ist diese Süßigkeit?
Bornhorst: Bei dem Konsum sollte man auf jeden Fall im Hinterkopf behalten, daß der Hauptanteil der Inhaltsstoff Zucker ist. Eine hohe und häufige Zuckerzufuhr fördert die Entstehung von Übergewicht und Adipositas sowie zahlreiche mit Übergewicht assoziierte Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie die Entstehung von Karies. Somit wird von Fachgesellschaften zu einer eher zuckerarmen Ernährung geraten.
Das Familienunternehmen Aseli (der Name entstand aus dem Vor- und Zunamen des Firmengründers Alfred Seliger Anm. d. Red.) produziert den Schaumzucker bis heute in guter „Alfred-Tradition“: nach alten Familienrezepten, handgekocht, handgespritzt und handverpackt. Über ihre Produktion sagen sie: „Die Rohmasse wird noch immer in traditionellen Kupferkesseln gekocht. Durch die hohe Wärmeleitfähigkeit verteilt sich die Temperatur schnell und gleichmäßig, das verhindert ein Anbrennen der Zuckerlösung und sorgt für ein ausgewogenes Aroma.


Foto: UniServiceTransfer

Wir verwenden nur natürliche Farbstoffe und es werden keine gentechnisch veränderten Organismen eingesetzt. Unsere Produkte enthalten keine kennzeichnungspflichtigen Allergene. Sie sind sowohl Gluten-, als auch Laktosefrei.“ Trotzdem besteht Marshmallow aus 75% Zucker. Wieviel Zucker sollte ein Mensch am Tag zu sich nehmen?
Bornhorst: Heute gibt es zunehmend Studien, die einen Zusammenhang zwischen hohem Zuckerverzehr und dem Risiko für chronische Krankheiten belegen. Das haben Experten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) festgestellt und daraus quantitative Empfehlungen für die Zuckerzufuhr der deutschen Bevölkerung abgeleitet. Diese Empfehlungen sind in einem Konsensuspapier zusammengefaßt. Die drei Fachgesellschaften haben sich auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Literatur für eine maximale Zufuhr freier Zucker von weniger als 10 % der Gesamtenergiezufuhr ausgesprochen. Nicht mehr als 10 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs von durchschnittlich 2000 Kilokalorien sollen in Form von Zucker konsumiert werden, das sind maximal 50 Gramm, also ca. 10 Teelöffel freier Zucker.
Daten aus Verzehrstudien zeigen allerdings, daß die Zufuhr freier Zucker in Deutschland insbesondere bei jüngeren Altersgruppen deutlich über der Empfehlung von unter 10 Energieprozent (En%) liegt. Kinder und Jugendliche konsumieren sogar 15 - 20 En%. Um die Zufuhrempfehlung freier Zucker nicht zu überschreiten, müßte die aktuelle Zufuhr um mindestens 25 % gesenkt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat für die Zuckerzufuhr sogar empfohlen, daß höchstens 10 % seiner täglichen Kalorien in Form von Zucker aufgenommen werden sollten. Noch besser seien sogar 5 %. Der Zuckertagesbedarf entspricht somit höchstens 25 Gramm pro Tag. Etwa 6 Teelöffel sollte ein Kind demnach nicht überschreiten.
Im August 2020 schlug die Presse hohe Wellen mit dem sogenannten „Kinder-Überzuckerungstag“; das hieß, bis August hatten Kinder und Jugendliche bereits so viel Zucker konsumiert, wie für ein ganzes Jahr empfohlen wird. Ein großer Anteil der Zufuhr freier Zucker stammt in Deutschland aus Süßwaren und zuckerhaltigen Getränken wie Fruchtsäften und Nektaren sowie Limonaden.
Natürlich kann man sich nicht ganz verschließen, aber man sollte alles in Maßen konsumieren und die Gesamtzuckeraufnahme im Blick behalten. Dazu gehört vor allem auch versteckter Zucker.
 
Von den vor 100 Jahren in Berlin kreierten weißen Mäusen kommt höchstwahrscheinlich auch der Begriff „Mäusespeck“. Marshmallows kann man in verschiedenen Formen essen, sie dienten als Belohnung in einer psychologischen Kinderstudie der 60er Jahre, dem sogenannten Marshmallow-Test, sind Namensgeber für die Android-Version 6 und finden sich auch in Form eines riesigen Marshmallowmanns im Kinofilm „Ghostbusters“ wieder. Was verbinden Sie mit diesem Schaumzucker?
Bornhorst: Ich verbinde mit Schaumzucker, bzw. dem Mäusespeck besondere Ereignisse. Also Geburtstage, wo es dann zu dem besonderen Anlaß Süßwaren gab. Ich persönlich greife eher zu Schokolade und esse Mäusespeck eher auf Feiern, wenn es sowieso auf dem Tisch steht.
Während meines Post-Doc-Aufenthaltes in den USA habe ich zudem gelernt, daß man ein sehr leckeres, knuspriges Gratin aus Süßkartoffelpüree mit Marshmallowkruste backen kann. Aber auch das war etwas Besonderes zu Thanksgiving.
 
Uwe Blass
 
Julia Bornhorst studierte und promovierte an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster. Sie arbeitete fünf Jahre am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Potsdam. Seit Januar 2019 ist sie Professorin für Lebensmittelchemie an der Bergischen Universität.
 
Redaktion: Frank Becker