Anna Vinnitskaya mit Schumann und Ravel

Beseelter neuer Auftakt zum Klavierfestival Ruhr

von Johannes Vesper

Anna Vinitskaya - Screenshot Johannes Vesper

Das Klavierfestival Ruhr erwacht:
 
Anna Vinnitskaya mit Schumann und Ravel im Stream
 
Von Johannes Vesper
 
Beim letzten „leibhaftigen“ Konzert des Klavierfestivals vor Corona mit Lang Lang im März 2020  hoffte man, J. S. Bach könne gegen Corona helfen. immerhin fanden so unter „AHA“ zwischen Juni und Oktober 2020 53 Konzerte mit insgesamt 15.000 Besuchern statt, und Rudolf Buchbinder bekam die Blumen von einem Roboter überreicht. Nach jetzt 6 Monaten weitgehend klavierloser Zeit erwacht das Klavierfestival wieder und startete am 28.05.2021 mit der vorzüglichen Anna Vinnitskaya im Livestream (kostenlos bis 27.06.2021!) aus der Philharmonie Essen. Zum Auftakt spielte sie Robert Schumanns bekannte und beliebte Arabeske in C-Dur op. 18 von 1839: anmutige, phasenweise emotional-drängende Musik aus der Stimmung des verliebten Robert empfunden, der in Gedanken an seine geliebte Braut zu dieser Zeit „sich gar nicht lassen kann vor Musik“. Das rondoartige Thema spiegelt sanft schwingende, lyrische Stimmungen zu Beginn („Leicht und zart“) wie am Ende werden, unterbrochen von Minore I und II. Die ausdrucksstarke Mimik der Pianistin mit lebhaftesten oder auch geschlossenen Augen wären dem Publikum im Live-Konzert verborgen geblieben. Der Epilog zuletzt scheint aus einer anderen Welt herüber zu klingen: verhalten, nachdenklich, langsamer, erinnert er an die „Kinderszenen. Ein langsam absteigend gebrochener Akkord erreicht endlich den Schlußton, den die Pianistin mit der linken Hand lange hält, während die hoch erhobene Rechte ihn noch weiter ausgestaltet. Warum Schumann später das Stück später nicht mehr so mochte, weiß man nicht.
 
Die anschließende Sonate Nr. 1 fis-Moll op. 11 (1834/35) hatte der 25jährige Robert der 16jährigen Clara zugeeignet, nannte sie später einen „einzigen Herzenschrei nach Dir“, war er doch noch mit einer anderen verlobt. In der „Un-Poco Adagio“ Einleitung erhebt sich das tragisch punktierte Thema über ostinatem Quartsextakkord, wandert später unter Übergreifen der Hände geändert hinab in den Baß. Nach kaum hörbarem Schlußton im PP beginnt das Allegro vivace mit geschwinder Quintfolge. Florestan und Eusébios, Leidenschaft und elegische Lyrik, die beiden Gegenpole Schumannschen Wesens stoßen dramatisch aufeinander. Bedrohlich punktierte Passagen wechseln mit lyrischen Zwischenstücken, woran uns die Pianistin mit ihrem Feuer und vollgriffig teilnehmen läßt. Die folgende kurze Aria im ¾ Takt –„nicht leidenschaftlich aber ausdrucksvoll zu spielen“- bietet emotionale Erholung und nimmt die Quintfolge des 2. Satzes wieder auf. Ohne Pause schließt sich das lebhafte Scherzo an. Mit überbordender Spielfreude, freier Agogik und wechselnden Tempi geht die Pianistin diese burleske Polonaise an. Zuletzt unterbricht ein ernstes Rezitativ virtuose Passagen. Richtig lustig ist dieses Scherzo nicht, eher leidenschaftlich und hoch emotional. Zuletzt fließt „Un poco maestoso“ mit nur ganz wenigen Unschärfen das ausgedehnte Finale, improvisatorisch-phantasierend, dem Ende entgegen.

Während einer kurzen Pause verlieren sich die virtuell Zuhörenden beim Anblick des angestrahlten Steinways vor roten Strahlern im schwarzen Rund der Bühne in der Essener Philharmonie.
 
Nach der Pause gibt es die 1911 uraufgeführten Valses nobles et sentimentales von Maurice Ravel (1875-1937). Aus einer anderen musikalischen Welt stammen diese Walzer, frisch modern der erste, gefühlsbetont elegisch, fast traurig der langsame zweite mit dem punktierten Thema auf einem Ton. Leichter und flockiger der dritte mit Anmutungen schon an La Valse, auch im flotten vierten. Wieder kündigt sich La Valse, damals schon im Kopf des Komponisten. Wechselnde Stimmungen mischen das ehemals selige Wien mit französischem Impressionismus auf. Die Orchesterfassung von 1912 war betitelt „Adelaide, oder die Sprache der Blume“. So hatte Maurice Ravel auch seinen Lastwagen genannt, den er dann als Soldat 1. Weltkrieg gefahren hat. Interessant wäre die Welte-Mignon Aufnahme vom Komponisten selbst, der, wie es heißt, immerhin ein passabler Pianist war. Ernst und ausdrucksvoll enden sie im Pianissimo.

Zuletzt dann La Valse von 1919. Das Stück hatte Sergei Djagilew, der Gründer und Leiter des Ballets Russes, als choreographisches Gedicht beauftragt. Der aus dem Bauch kommende Dreiertakt mit dem leicht zu frühen 2. Schlag, kompensiert mit dem verspätenden 3., macht den Wiener Walzer aus, der verfremdet hier sein Ende findet. Beunruhigend leise steigt aus der Tiefe das Chaos auf, woraus sich nach und nach der Walzertakt entwickelt. Dazu drängt der nahezu militärisch schreitende Baß immer wieder hinauf zum Diskant. Alles andere als „An der schönen blauen Donau“, wurde die Seligkeit der Belle Époque des 19. Jahrhunderts mit diesem ekstatischen Totentanz unter dem Eindruck des katastrophalen 1. Weltkriegs mit nur zwei Händen musikalisch zerschlagen. Immer wieder wühlt sich der Walzer aus der Tiefe nach oben, mischt sich mit verwirrender Chromatik rauf und runter auf bis zum Glissando und zur Generalpause vor dem Schlußtaumel. Da hat es das Klavier im Vergleich mit einem großen Sinfonieorchester und seiner farbigen Instrumentation nicht leicht. Bei der Klavierfassung kommen aber bei mimisch beseelter Fingerakrobatik, Emotionen und Kraft der famosen Pianistin voll zur Geltung. Prof. Franz Xaver Ohnesorg überreichte unter dem stillen Applaus des virtuellen Publikums den verdienten Blumenstrauß, nachdem die Pianistin ihre Maske endlich aufsetzen konnte.
 

Anna Vinitskaya - Screenshot Johannes Vesper

In ihrem Podcast „AnTasten“ spricht Anna Vinnitskaya über sich, darüber, wie wichtig ihr die Liebe zur Musik sei und wie sie ständig das eigene Verhältnis dazu zu ergründen suche. Familie, Konzerte und Professur unter einen Hut zu bringen, sei eine Herausforderung. Unter den Coronaeinschränkungen spiele sie nur, worauf sie Lust habe, vor allem auch J.S. Bach. Der bringe sie weiter. Zu viele Konzerte „machen sie kaputt“, also will sie sich auf maximal 50/Jahr beschränken.
 
Zum Werdegang: Geboren im russischen Novorossijsk, begann sie das Klavierstudium in Rostow und setzte es, nachdem sie mit 18 Jahren nach Deutschland kam, bei Evgeni Koroliov an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg fort. 2007 gewann sie den 1. Preis beim „Concours Reine Elisabeth in Brüssel 2007“ und spielt seitdem solistisch wie auch mit den großen Orchestern und führenden Dirigenten wie Marek Janowski, Kirill Petrenko, Andris Nelsons, Alan Gilbert u.a.. Für ihre CD -Einspielungen bekam sie zahlreiche Preise. Seit 2009 unterrichtet sie an der Hamburger Musikhochschule.
 
„Die Pianisten der Welt beflügeln Europas neue Metropole“: Das Klavierfestival hat also wieder begonnen. Die erste Staffel geht weiter mit Evgeny Kissing am 25. Juni im Konzerthaus Dortmund. Programm siehe Klavierfestival Ruhr 2021