Der Zahn der Zeit hat Karies

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Der Zahn der Zeit hat Karies
 
Alles hat seine Zeit. Auch Schnürsenkel sind immer einem gewissen Verschleiß unterworfen. Das Ziehen durch Ösen stellt dabei den Moment der größten Belastung dar. Selbst robuste Schnürsenkel, die mit einem Stück PE-Folie benadelt sind, geben nach und fransen aus. Ohne die passenden Schuhbänder verliert der Schuh an Charisma und der Verfall nimmt seinen Lauf. Meine Schuhbänder sind sogar vegan, und meine Strümpfe sind fair gehandelt. Unten sehe ich besser aus als oben. Bei Lebensmitteln findet man oft ein Verfallsdatum. Ich habe einen Käse, der ist drei Jahre genießbar, da kann man ganz entspannt warten, bis man auf ihn Hunger bekommt. Andere Lebensmittel muß man schnell verzehren, bevor sie umkippen und ihre Persönlichkeit verlieren. Wer ißt schon gerne Fisch an einem Mittwoch, nur weil er weg muß? Ich mag keinen Heilbutt, wenn ich vorher schwimmen war und der Bademeister meine Badehose kritisiert hat. Mein Rauchmelder wird durch eine Batterie angetrieben, mit der er angeblich 10 Jahre Rauch melden kann. In 10 Jahren bin ich selber Rauch. Wenn bei meiner Küchenuhr die Batterie ihren Geist aufgibt, bleibt sie stehen. Wenn ich ihr dann eine neue Batterie einsetze, laufen Sekunden-, Minuten- und Stundenzeiger schnell im Kreis herum, um die ausgesetzte Zeit wieder aufzuholen, bis sie schließlich die Zeit anzeigen können, die nun tatsächlich herrscht. Als wenn man verpaßte Zeit nachholen könnte. Manche Kulturvereine sehnen sich nach Nachwuchs, damit ihre Arbeit weitergeführt wird. Viele vergessen aber, daß Jugendliche sich nicht im Jazz auskennen und nicht wissen wer Hanns Dieter Hüsch ist. „Alles hat seine Zeit“, sagt man, dabei habe ich eine Hornhautfeile, die mich und meine Hornhaut ganz sicher überleben wird. Mein Hornhautentferner kennt kein Pardon. Er gehört nicht in Kinderhände und verwandelt mein Badezimmer in einen Operationssaal. Ich sah mal einen Film von einem Mann, der, als er gestorben war, nicht verhindern konnte, daß seine Füße unter einem weißen Laken hervorschauten. Man sah dabei deutlich, daß die Fersen seiner Füße von Hornhaut mit Schrunden entstellt waren. Ich nahm mir vor, daß mal meine Füße auf Fotos einen besseren Eindruck hinterlassen werden. Wenn man genauer wüßte, wann die Zeit dafür gekommen ist, würde ich mir sogar einen neuen Schlafanzug kaufen. Der letzte Eindruck ist mir auch noch wichtig, wenn man selbst nicht mehr dabei ist. Ich mag die Geschichte von dem alten Schauspieler, der einmal im Amalthea die Bühne betrat und alle klatschten und jubelten, und jemand der den alten Schauspieler nicht kannte, fragte erstaunt, warum denn alle klatschen und jubeln würden? Er ist doch gar nicht so gut. Und ein Amaltheaner sagt dann begeistert: „Sie hätten ihn früher erleben müssen.“ Jubeln und klatschen wir, wenn wir dem Leben begegnen. Erinnern wir uns an die schönen Zeiten, wenn es Abend wird.
 
 
© 2021 Erwin Grosche