Echo und Narziss verkehrt

Iris Hanika – „Echos Kammern“

von Johannes Vesper

Echo und Narziss verkehrt
 
Iris Hanika - Echos Kammern
 
Ob es etwas gibt auf der Erde, was Bedeutung hätte oder gar den Gang der Ereignisse ändern könnte? Mit dieser Frage wird als Vorwort Daniil Charms zitiert. Ist das selbstkritisch und ironisch zu verstehen, wenn die Schriftstellerin bei ca. 80. 000 Neuerscheinungen pro Jahr einen weiteren Roman vorlegt?
 
 „Pfeilgrade“ wird auf der ersten Seite erzählt, daß Sophonisbe im Verlauf der Erzählung bei Roxana in Berlin ein Zimmer mieten wird. Erstmal aber bedürfen die des ungewöhnlichen Namens der beiden Protagonistinnen der Erklärung. Bildungsbeflissene Eltern wählten den Namen für ihre „Sophonisbe“ nach der berühmten Malerin der Renaissance, Sofonisba Anguissola (1532-1625). Und „Roxane“ – zu Deutsch „Morgenröte, Strahlende“- hatte ihre Mutter wohl im Geschichtsunterricht gehört, als es um Alexander den Großen ging. Die mittel-alte Sophonisbe schreibt über ihren Besuch New York ein Tagebuch, wozu sie -und darauf ist sie stolz- ihre eigene „lengevitch“ erfunden hat. Die Bezeichnung entsteht lautmalerisch, wenn man das englische „language“ sehr deutsch und schnell ausspricht. Eigentlich stammt dieses Kauderwelsch von M. Stein, der das bereits 1925 genutzt hat. Die Schriftstellerin Sophonisbe hatte schon lyrisch gedichtet und in ihrem Erstlingswerk „Mythen in Tüten“ über Echo und Narziss geschrieben, Echo gendergerecht heute an erster Stelle. Bei ihren Spaziergängen durch New York, erlebt sie tote Stadtviertel („denn wo das Geld hinfällt, da wächst kein Gras mehr“), schaut deprimiert in Gebrauchtbuchläden und fürchtet, daß ihr eigenes Œuvre eines Tages dort landen könnte. Auf einer Glamourparty bei der berühmten Beyoncé lernt sie, was das wahre amerikanische Glück sei: anstrengungsloser Small Talk ohne Hirntätigkeit, „nur sein“, Tausch von Visitenkarten mit belanglosen Menschen. Dann aber läuft ihr der schöne Student Josh vor die Füße. Dieser zeitgenössische Narziss interessiert sich für die „Bloodlands“ östlich von Deutschland und promoviert über die deprimierende Geschichte der Ukraine. Bald fragt sie sich, was man hier so von Deutschland hält. Denkt man vorwiegend an Naziverbrechen, oder heute eher an Bach, Hegel, Marx und den betrügerischen VW?
 
Mit dem Besuch eines alten Freundes und dessen Deborah wird dramaturgisch der 2. Teil der Erzählung vorbereitet. Deren Wohnung an der Park Avenue (11. Stockwerk) erlaubt in N.Y. „menschenwürdiges Leben“, ist doch aus dem Fenster heraus der Himmel, über dem Central Park der farbenprächtige Sonnenuntergang zu sehen und die Küche so groß wie ihr gesamtes Appartement. Eine solche Wohnung gibt es wohl nur für Banker mit ausreichendem Aktiendepot. Bei wunderbaren Weinen und den vom Freund gezauberten Speisen breitete sich bald Heiterkeit und tiefes Verständnis füreinander aus. Sophonisbe erzählt, daß sie noch nicht weiß, wo sie nach ihrer Rückkehr nach Berlin wohnen wird, da sie die Wohnung aufgegeben habe. Nur mit Computer, Koffer und USB-Sticks sei sie nach New York aufgebrochen. Sie erzählt auch von Josh und dessen Promotionsthema. Das erweckte das brennende Interesse Deborahs, deren Familie aus der Ukraine stammte und für die die Ukraine ihr verlorenes Paradies war. Um es kurz zu machen. Freund Alf stellte den Kontakt her zu Roxana in Berlin, deren Ratgeber als „Rosis rote Ratgeber“ sich gut verkauften. Bei Ihr werde Sophonisbe erst einmal unterkommen können.
 
Das „Zwischenspiel“ spielt in Berlin, wo im Gegensatz zu New York überall der Himmel zu sehen ist, „lengevitch“ nicht mehr benötigt wird, wo man „sexy und fiktiv , steht immer auf Berliner Mief“, wo man auf dem Berghain über die Dächer von Neukölln gucken kann, wenn man sich nicht gerade mit der Polizei prügelt, und wo es nicht nur „rührende Krankenschwestern und fleißige Klempner, sondern auch unverschämte Taxifahrer und schnippische Verkäuferinnen in Mengen gibt“. Im Gegensatz zum bis auf den letzten Quadratmeter bebauten New York ist Berlin nahezu unbewohnt und Brache befindet sich neben Brache. Nichts lädt dort im Gegensatz zu Paris oder New York zum Flanieren ein. Und vom jahrzehntelangen Wesenskern der Stadt, der Mauer ist nichts geblieben als leere Mitte, die mit „überflüssiger Architektur inzwischen zugemüllt“ wurde, inklusive neuerdings der Kopie des historischen Gebäudes, von dem unklar bleibt, welcher Zeit seiner Baugeschichte es entstammen soll.
 
Roxana begrüßt Sophonisbe in ihrer wunderbaren Wohnung zwischen Bleibtreu- und Knesebeckstraße und bald diskutiert man die Werke beider. Von den „Mythen in Tüten“ zeigte sich Roxana sehr angetan, bieten Echo Narziss doch Potential für akademische Feministinnen. Echo kann auch in der Moderne keine Kommunikation verweigern, bringt von sich aus nie etwas Neues und hat immer das letzte Wort. Josh kommt nach Berlin, Roxana verliebt sich gleich in diesen Schönen und stellt sich vor, wie eine Affäre mit ihm wohl vor 30 Jahren abgelaufen wäre. Ist sie verknallt, weil er so jung oder weil er so schön ist? An sich kennt sie sich ja mit der Liebe aus, hatte sie doch in ihren Ratgebern darüber geschrieben. Sie fühlt sich beim schönen Josh an Caravaggios „Amor als Sieger“ erinnert. Jedenfalls beschäftigt sie sich ausschließlich mit ihrem Liebeswahn und würde gerne mit ihm vögeln, obwohl Sophonisbe ihr klar zu machen versucht, daß der Loverboy zur Generation derer gehört, die mit Internet-Pornokonsum aufgewachsen sind und als Liebhaber wahrscheinlich kaum zu gebrauchen sei. Roxana verliert ihr Herz, auch den Verstand und fragt sich zuletzt vor dem Ganzkörper-Spiegel, wer sie eigentlich ist. Endlich reist Josh in die Ukraine ab. Daß die New Yorker Freunde nach Berlin kommen wollen, glaubt Roxana nicht ertragen zu können und das Buch endet wo es begonnen hat. Die Wohnungen werden getauscht, Roxana reist nach Manhattan, ist weder begeistert von den konsumierenden „kaufwütigen Zombies“ in allen Straßen noch von den Verwüstungen des Geldes dort. Sie hofft, daß die Zeit ihre emotionale Wunde würde heilen können und will jedenfalls den räumlichen Abstand zu allem vergrößern - nur weit weg. Sie plant also nach SFO, NRT, PVG zu fliegen bis sie eines Tages vielleicht auch wieder in TXL oder dann auch BER würde landen können. Die Abkürzungen für die Flughäfen werden im Anhang erläutert. Derweil plant Sophonisbe ihr neues Buch, welches vom Spiegeln handeln sollte. Was daraus wird, „wie schön alles hätte sein können, die ganze Welt, das ganze Leben“ erfährt der Leser nicht. So wird der Bogen zum Vorwort gespannt.
 
Tatsächlich zeigt sich Iris Hanika mit diesem Werk als „kluge, witzige und wüste Erzählkonstrukteurin“ wie die Jury in ihrer Begründung zum Preis der Leipziger Buchmesse 2021 schrieb. Tatsächlich werden New York, Berlin und Liebeswahn amüsant erfaßt. Darüber gibt es natürlich zahllose Romane und mit der prinzipiell weder originellen noch neuen Thematik lebt die Autorin wirklich in Echos Kammern, bricht daraus aber mit vielen Aspekten immer wieder selbstironisch, satirisch (?) jedenfalls munter. Also nicht überlesen! Vielschichtiges, großartiges Lesevergnügen.
 
Iris Hanika – „Echos Kammern“
Roman
© 2020 Literaturverlag Droschl, Erstausgabe, 249 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-99059-056-0,
22,- €
 
Weitere Informationen: www.droschl.com