„Davon glaube ich kein Wort!“

Einige stolze Persönlichkeiten (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer

„Davon glaube ich kein Wort!“

Einige stolze Persönlichkeiten (2)

Von Ernst Peter Fischer
 
 Damit ist ein wichtiger Name in der Geschichte der Wissenschaft gefallen, wobei es auffällt, daß von den großen Forschungsgestalten des 20. Jahrhunderts vor allem Seymour Benzer von der Schwedischen Akademie vergessen worden ist, die jährlich die Nobelpreise vergibt. Dabei hat er als blutjunger Physiker fast den Transistor erfunden und als ein immer noch junger Mann als Forscher zeigen können, daß ein einzelnes Glied der als molekulare Kette gebauten DNA Doppelhelix reicht, um eine Mutation zu bewirken und einem Gen eine neue Funktion zu geben. Als Benzer in der Mitte der 1950er Jahre daran arbeitete, publizierte er so viele Arbeiten, daß seine Kollegen ihn baten, er möchte doch bitte das Wichtige unterstreichen. Sie könnten nicht den ganzen Tag damit verbringen, seine Veröffentlichungen zu lesen.
       Als Benzer dieser Aufforderung nachkommen wollte, merkte er, daß es so viel gar nicht zu unterstreichen gab, und außerdem lockte ihn längst eine kleine Fliege, die in seinem Nachbarlabor kreiste und viel mehr Verhaltensmöglichkeiten zeigte als die Bakterien, deren Leben sich darauf beschränkte, sich zu teilen. Benzer träumte davon, die Genetik des Verhaltens oder des Gehirns – das einer Fliege – entwickeln und verstehen zu können, und er hat später einmal erzählt, warum er seinen Entschluß, den Bakterien den Rücken zu kehren, durchgehalten hat. Benzer erörterte seine Wahl einer Fliege als Objekt seiner Untersuchungen mit vielen Freunden und Kollegen und lernte dabei folgendes:
       „Wenn Dir jeder sagt, so etwas solltest du nicht anfangen, dann sollte man besser auf sie hören und sich anders entscheiden. Wenn Dir jeder sagt, das solltest Du auf jeden Fall machen, dann sollte man vielleicht auch zögern, sich auf den neuen Weg zu begeben. Wenn aber eine Hälfte meint, daß das Projekt eine tolle Idee sei, während die andere Dich für verrückt erklärt, dann sollte man sich auf keinen Fall aufhalten lassen und den anvisierten Weg einschlagen.“
       Als er anfing, nach Mutationen von Fliegen zu fahnden, deren Verhalten auffällig ist, bekam Benzer Besuch von seiner Mutter, die ihn fragte, was er mache. Er antwortete, „ich versuche das Gehirn einer Fliege zu verstehen“, was seine Mutter veranlaßte, einen Kollegen zu fragen, ob alles mit Seymours Gehirn in Ordnung sei oder man sich Sorgen um ihren Sohn machen müßte.
       Natürlich verfügt eine winzige Fliege nur über noch viel winzigere Nervenzellen, aber Benzer hoffte, daß man gewissermaßen mit den Genen und ihren Mutationen ein Skalpell in die Hände bekommen könnte, um sie zu sezieren und so das Hirngewebe zu verstehen. Er gab gerne zu, ein idealer Organismus für seine Zwecke „müßte riesengroße Neuronen haben, sich wie wild und äußerst schnell vermehren und in der Lage sein, das Klavierspielen zu lernen“, aber solange es den nicht gab, mußte man es mit der Fruchtfliege Drosophila versuchen, was Benzer insgesamt sehr gelungen ist, wobei die Gemeinde der Genetiker allein schon deshalb auf Nachrichten aus seinem Laboratorium wartete, weil Benzer den Mutanten so hübsche Namen gab. Eine Fliege, die ihr Hirngewebe nur mit Löchern hinbekam, nannte er „Schweizer Käse“, eine andere, die etwas länger lebte als normal, nannte er „Methusalem“, und eine weitere, die sich nichts merken konnte, nannte er „Dummkopf“ (oder „Dunce“ im amerikanischen Englisch). Am meisten lachte man unter den Fliegenforschern, als man eine Mutante unter den Männchen fand, die den Geschlechtsakt mit einem Weibchen beginnen konnte, dann aber festsaß. „Stuck“ hieß das kleine Wesen, das zappelte und zappelte und von einem einsichtigen Biologen aus seiner mißlichen Lage befreit werden mußte.
       Bei der Suche nach einem geeigneten Organismus kann man auch einen Griff ins Klo tun, und viele Biologen waren zum Beispiel der Ansicht, daß Delbrücks Wechsel von den Bakterien und Viren zu dem Pilz Phycomyces und seiner Wahrnehmungsfähigkeit ein Beispiel dafür lieferte. Delbrück selbst hat kurz vor seinem Tod in einem Tagebuch geschrieben, er sei „sick at heart at the unsolved state of the problem“, und damit meinte er ein Verständnis für die Kette der Signale, die wie das Licht erst von außen kommen, dann aufgenommen und umgewandelt und schließlich in eine überlebensnotwendige Reaktion des Organismus überführt werden. Vor allem verstand er trotz aller Mühe und Arbeit nicht, wie es das kleine Pilzchen schafft, Gegenständen auszuweichen. Mit welchem Signal beginnt die „Avoidance response“, wie Delbrück die Ausweichbewegung nannte? Wird das zu vermeidende Objekt gesehen, gehört, gerochen, gespürt, geahnt oder was? In seiner Verzweiflung ließ er eine Zeit lang sogar Leute in sein Labor, die sich als Experten für Außersinnliches ausgaben und verkündeten, sie könnten das Verhalten des Pilzes beeinflussen.
       Sie konnten es natürlich nicht, und so bekam Delbrück die oben erwähnten Herzschmerzen, wobei eine gute Freundin von ihm, die ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Genetikerin Barbara McClintock einen Rat für ihn gehabt hätte. McClintock versuchte stets, „a feeling for the organism“ zu entwickeln, den sie verstehen wollte. Ein Gefühl für den Pilz, das hätte verhindert, was McClintock zufolge möglich wird, wenn man das Lebewesen nur als Modellorganismus wahrnimmt und sich nicht weiter auf es einläßt. Dann kann das kleine Ding den großen Mann nämlich foppen – „the organism fooled Max“, wie Barbara McClintock dem Autor dieser Zeilen einmal verraten hat, um zu erläutern, warum Delbrück so lange vergeblich nach dem Signal gesucht hat, mit dem der Pilz seinen Weg ins Offene findet.
       Es kann schon passieren, daß biologisch orientierte Wissenschaftler eine besondere Nähe zu ihren Forschungsobjekten entwickeln, und es kann sein, daß das von ihnen beackerte Gebiet vorankommt, wenn dies eintritt. Die Fruchtfliege, die Seymour Benzer in den letzten Jahrzehnten seines Lebens faszinierte, ist von Thomas Hunt Morgan zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die genetische Forschung eingeführt worden, wobei die Kuriosität nicht unerwähnt bleiben kann, daß Morgan ursprünglich als Embryologe gearbeitet hatte und die Ergebnisse nicht glauben konnte, die nach 1900 an die alten Arbeiten von Gregor Mendel Anschluß fanden und verkündeten, die Gene seine kleine Partikel in den Zellen. Morgan, der die Formenvielfalt der embryonalen Entwicklung des Lebens bewunderte, konnte nicht glauben, daß kleine Klötzchen dafür verantwortlich sein sollen. Er machte sich an die Arbeit der Widerlegung, aber nur um einzusehen, daß es Gene als Teilchen in den Fliegen – genauer: in ihren Zellen – gab. Bei seinen Untersuchungen tauchte plötzlich in Morgans Laboratorium eine Drosophila mit weißen – statt der normalen roten – Augen auf. Durch seine Lupe sah der Genetiker zwei weiße, ausdruckslose Augen bei einem Männchen. Sein Herz pochte vor Aufregung, und das Pochen wurde heftiger, als Morgan feststellte, als es ihm gelang, das mutierte Männchen mit einem normal rotäugigen Weibchen zu paaren, und wer will, kann von dieser erfolgreich durchgeführten Kreuzung und ihren Ergebnissen ausgehen, um von diesem Punkt an die Geschichte der sich bald ungeheuer dynamisch entwickelnden Genetik zu schreiben. Das soll hier unterbleiben, um die schöne Anekdote erzählen zu können, in der zu erfahren ist, daß Morgan derart vorsichtig und sorgfältig mit dem weißäugigen Männchen umging, daß er das wertvolle Exemplar in seinem Glas mit nach Hause nahm und es neben sein Bett stellte, um es zu bewachen. Morgan sagte seiner Frau, daß Männchen sähe so schwach aus und brauche dauernde Aufsicht. Seine Gattin zeigte Verständnis und erkundigte sich am nächsten Morgen, wie das Schätzchen die Nacht verbracht habe. „Alles in Ordnung mit der Fliege?“
 
Und noch etwas
Es stellt naturgemäß keine Überraschung dar, daß bei Biologen mehr von Paarung, Zeugung, Nachwuchs und dem dazugehörigen Liebesleben die Rede als bei Physikern, die trotzdem auch ihren Spaß haben können und wollen, wenn die forschen. Richard Feynman hat einmal gesagt, „Wissenschaft ist wie Sex, manchmal kommt etwas Sinnvolles dabei heraus, aber das ist nicht der Grund, warum wir es tun.“
       Wie gesagt, das alles stellt naturgemäß keine Überraschung dar. Und trotzdem mußte der Autor dieser Zeilen sich verwundert die Augen reiben, als er 1980 von dem todkranken Max Delbrück gebeten wurde, seine Biographie zu schreiben, was dann auch geschehen ist. Trotz seiner körperlichen Schwächen hielt Delbrück einige Tage in seinem Haus im kalifornischen Pasadena durch, um mit mir über das Buchprojekt zu sprechen. Nachdem ich zugestimmt hatte, wollte ich mich verabschieden, um nach Deutschland zurückzukehren, als Delbrück plötzlich etwas einfiel. „Wie kannst Du mein Leben beschreiben“, fragte er mit kaum hörbarer Stimme den an seinem Bett Sitzenden, „wenn Du nichts von meinem Sexleben weißt?“ Eine gute Frage?
 
 
© Ernst Peter Fischer